Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierter Jahrgang. 1863. (4)

Uebersicht der Ereignisse des Jahres 1863. 367 
nützte das revolutionäre Comité, um zu offenem Widerstand überzugehen. Nußland. 
Die geflohenen Schaaren sammelten sich in den Wäldern, vereinigten sich 
mit anderen, die schon bereit waren, und übersielen auf verschiedenen Punkten 
des Landes die russischen Truppen, während das geheime revolutionäre 
Comité nunmehr hervortrat, sich als provisorische Nationalregierung con- 
stituirte und durch Proclamation die Nation zu den Waffen rief. Um 
die Massen zu gewinnen, wurden die Bauern durch dieselbe Proclamation 
sofort für freie Eigenthümer der von ihnen bisher besessenen Grundstücke 
erklärt, den Taglöhnern ein kleines Besitzthum aus den Natienalgütern 
feierlich verheißen und die Entschädigung der bisherigen Eigenthümer auf 
die Nationalschuld gewälzt. Der Kampf der polnischen Nalion mit der 
gewaltigen Macht Rußlands war also neuerdings aufgenommen und die 
Nachricht verfehlte nicht in der öffentlichen Meinung Europa's diejenige 
Theilnahme hervorzurufen, die dem unglücklichen Volke nicht versagt wer- 
den konnte, obgleich man sich gestehen mußte, daß der verzweifelte Versuch 
nur sehr wenig Aussicht auf Erfolg darbot, soferne nicht irgend eine der 
europäischen Mächte den Polen eine helfende Hand reichen würde, was in 
der That ganz und gar nicht wahrscheinlich war. Oesterreich und Preu- 
ßen mußten das Ereigniß nothwendig mit mißtrauischen Augen betrachten 
und eine Ausdehnung der Insurrection auch auf Posen und Galizien be- 
sorgen; England und Frankreich waren zunächst nicht in der Lage, für die 
Polen gar viel thun zu können. Die polnische Frage wurde zwar schon 
am 4. Februar im gesetzgebenden Körper Frankreichs zur Sprache gebracht, 
aber von der Regierung entschieden ablehnend beantwortet. Erst als 
Preußen sich nicht damit begnügte, seine Grenzen zu wahren und jede 
Uebertragung der Insurrection auf sein Gebiet zu verhindern, sondern mit 
Nußland gemeinsame Sache zu machen sich anschickte, änderte sich die 
Situation und bot Frankreich Gelegenheit, die Frage aufzunehmen. 
Der große Kampf zwischen der Volksvertretung in Preußen und Preußen. 
der Krone und ihren Ministern waltete noch immer ungelöst und seit der 
König die Leitung der Geschäfte in die Hände des Herrn v. Bismarck ge- 
legt, war eine Verständigung oder Ausgleichung wenn nicht geradezu un- 
möglich, doch in weite Ferne gerückt worden. 
Beide Theile beriefen sich auf die Verfassung. Während die Volks- 
vertretung dieselbe schon durch die Vorgänge des verflossenen Jahres für 
gebrochen erachtete, glaubte der König, noch immer innerhalb derselben 
geblieben zu sein. Dem Wortlaut nach mochten sich in der That auch
	        
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