Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierter Jahrgang. 1863. (4)

374 Uebersicht der Ereignisse des Jahres 1863. 
Rußland. lungen genehmigt und gegen Ende Juni überreichen die drei Gesandten 
wiederum gleichzeitig dem Fürsten Gortschakoff die Depeschen der drei Mächte. 
Die Forderungen derselben waren in folgenden sechs Punkten formulirt: 
1) Vollständige und allgemeine Amnestie; 2) nationale Vertretung, welche 
an der Gesetzgebung des Landes theilnimmt und wirksame Mittel der 
Controle besitzt; 3) Ernennung von Polen zu den öffentlichen Aemtern 
in solcher Weise, daß eine besondere nationale und dem Lande Vertrauen 
einflößende Administration gebildet werde; 4) volle und gänzliche Ge- 
wissensfreiheit mit Aufhebung der die Ausübung des katholischen Cultus 
treffenden Beschränkungen; 5) ausschließender Gebrauch der polnischen 
Sprache als amtlicher Sprache in der Verwaltung, der Rechtspflege und 
dem Unterrichtswesen; 6) Einführung eines regelmäßigen und gesetzlichen 
Necrutirungssystem. Wenn es Rußland wirklich um eine dauerhafte Be- 
ruhigung Polens zu thun war, so konnte es gegen diese Forderungen wenig 
einwenden und mit Recht mochte das österreichische Cabinet von denselben 
sagen: „Mehrere von den Bestimmungen dieses Programms bilden einen 
„Theil des Entwurfes, welchen das Cabinet von St. Petersburg selbst 
„seiner Haltung vorgezeichnet hat, andere enthalten Vortheile, welche das- 
„selbe verheißen oder hat hoffen lassen, keine endlich überschreitet das 
„Maaß dessen, was die Verträge zu Gunsten der Polen festgesetzt hatten“. 
Es scheint, daß die drei Mächte sich in der That einiger Hoffnung hin- 
gaben, daß Nußland auf ihre Forderungen eingehen werde. 
Ungefähr zu derselben Zeit hatte die polnische Insurrection ihren 
Höhepunkt erreicht. Dem Aufrufe der geheimen Nationalregierung vom 
22. Januar entsprechend tauchten bald überall in Polen und Litthauen 
kleinere und größere Schaaren auf, welche vereinzelte russische Detachement 
überfielen, größere wenigstens beunruhigten. Doch bildete sich nirgends 
ein stärkeres, fest organisirtes Insurgentencorps; jede Schaar stand unter 
ihrem eigenen Führer und jeber von diesen operirte für sich und unab- 
hängig von jedem andern. Zwar hatte die Nationalregierung schon am 
25. Januar Mieroslawski zum Dictator ernannt und derselbe war auch 
am 17. Febr. in Polen eingetroffen, aber schon wenige Tage nachher 
wurde die Abtheilung, deren Befehl er übernommen hatte, von den Russen 
geschlagen und zersprengt; der Dictator selbst floh und zog sich bald über 
die preußische Grenze zurück. Glücklicher schien ein anderer Führer, der 
aus dem Posenschen gebürtige Langiewicz, der das Commando über 
die Insurgenten im Sandomirschen führte und nach einigen glücklichen
	        
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