Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierter Jahrgang. 1863. (4)

Uebersicht der Ereignisse des Lahres 1863. 387 
eine gewisse Führung übertragen hatte, in Frage gestellt. Dieß schien in 
der That der Moment für Oesterreich, um einen entscheidenden Versuch 
zu wagen und die Bundesreformfrage in seine Hand zu nehmen; mußte 
sich nachgerade doch auch Oesterreich gestehen, daß der alte Bundestag nicht 
bloß den Bedürfnissen und den lauten Forderungen der Nation nicht mehr 
genüge, sondern selbst den Interessen Oesterreichs eine feste Stütze nicht 
mehr zu bieten im Stande sei. In einer Denkschrift, die es um die 
Mitte des Jahres ausarbeiten ließ, zeichnete es die Lage der Dinge in 
Deutschland mit einer Schärfe, die nicht schneidender hätte sein können. 
„Unaufhaltsam — so äußerte es sich — hat sich in Deutschland ein fort- 
„schreitender Proceß der Abwendung von dem bestehenden Bunde vollzogen, 
„ein neuer Bund aber ist bis heute nicht geschlossen und das Facit der 
„neuesten deutschen Geschichte ist somit zur Stunde nichts als ein Zustand 
„vollständiger Zerklüftung und allgemeiner Zerfahrenheit. Man denkt in 
„der That nicht zu nachtheilig von diesem Zustande, wenn man sich ein- 
„gesteht, daß die deutschen Regierungen im Grunde schon jetzt nicht mehr 
„in einem festen gegenseitigen Vertragsverhältnisse zusammen stehen, son- 
„dern nur noch bis auf weiteres im Vorgefühle naher Katastrophen neben 
„einander fortleben. Die deutsche Revolution aber, im Stillen geschürt, 
„wartet auf ihre Stunde."“ 
Dieser Aussicht wollte Oesterreich zuvorkommen. Die deutsche Na- 
tion sollte in ihren berechtigten Bestrebungen wenigstens bis auf einen 
gewissen Grad und so weit es unter den obwaltenden Umständen erreich- 
bar sein mochte, ohne den Interessen der verschiedenen Regierungen zu 
nahe zu treten, befriedigt werden. Die Ideen dafür gaben Oesterreich 
seine eigenen Erfahrungen, seine eigenen Verfassungszustände an die Hand. 
Der Kaiser hatte seinem Reiche eine Verfassung gegeben, welche die ver- 
schiedenen Stämme desselben zur Theilnahme an den gemeinsamen Ange- 
legenheiten berief und doch so vorsichtig abgewogen und umschränkt war, 
daß die Regierung keine wesentliche Einbuße an der ungehemmten Aus- 
übung ihrer bisherigen vollen Gewalt erlitt, an der-Vertretung der ver- 
schiedenen Königreiche und Länder im Reichsrathe im Gegentheil einer 
Stütze genoß, der die wiederbefestigte Stellung des Reiches in Europa 
wesentlich mit zu verdanken war. Sollte nicht etwas ähnliches auch in 
Deutschland zu erreichen sein? Die unerläßlichen Bedingungen dafür 
waren nur, erstlich einen Organismus auszudenken, der der Nation zwar 
einen gewissen Einfluß auf ihre eigenen Angelegenheiten einräumte, aber 
25“ 
Deutsch- 
land.
	        
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