Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierter Jahrgang. 1863. (4)

Italien. 
428 lAebersicht der Ereignisse des Jahres 1863. 
die alte Eifersucht zwischen den mannigsaltigen Gliedern durch die gemein- 
samen Interessen und das Gleichgewicht aller berechtiglen Factoren für 
immer beseitigt werden. Willig bot sich die Lombardei dazu dar, nicht 
allzugroß waren die Schwierigkeiten in Toscana, den Herzogkthümern und 
einem Theile der Romagna, aber der übrige Theil des Kirchenstaats, 
Neapel und Sicilien widerstrebten vielfach selbst den einfachsten Forderun- 
gen staatlicher Ordnung und boten theils noch gänzlich unentwickelte, theils 
durchaus verkommene Zustände da, die nur allmälig und vorsichtig geho- 
ben werden konnten. Es war dieß um so schwieriger, als Neapel vorerst 
noch von Turin aus regiert werden sollte und bei jeder Neuerung theils 
mit Recht, theils mit Unrecht über Piemontesismus geklagt wurde. Den- 
noch war das offenbar die nächste, die dringendste, die wichtigste Aufgabe 
des neuen Staates. Man kann nicht sagen, daß seine Ansprüche auf 
Venedig und Rom unbegründet waren: es läßt sich nicht rerkennen, daß 
die österreichische Herrschaft in Venetien nicht auf der freien Zustimmung 
seiner Bewohner, sondern lediglich auf der militärischen Gewall des Kaiser- 
staats beruht, und daß die weltliche Herrschaft des Papstes den Bedürf- 
nissen der Zeit in keiner Weise genügt und kaum wird geläugnet werden 
können, daß, wenn heute die österreichische Regierung ihre Truppen aus 
Venetien und Frankreich die seinigen aus Nom zurückziehen würde, mor- 
gen schon die Bevölkerung des einen wie des andern sich nicht einstimmig, 
aber doch mit überwältigender Mehrheit dem Königreich Italien anschlössen. 
Davon ist natürlich keine Rede: Oesterreich will und kann vielleicht nicht 
auf Venetien verzichten, der Papst aber, weit entfernt, von dem Wenigen, 
was ihm geblieben, lassen zu wollen, verlangt fort und fort die Rückgabe 
der ihm gewaltsam entrissenen Provinzen, die katholische Welt hält die 
Unterlage weltlicher Herrschaft für das Haupt ihrer Kirche für unentbehr- 
lich und die katholischen Mächte, Frankreich voran, können in der That 
nicht daran denken, den Papst zu einem Werkzeuge des Königs von Italien 
herabsinken zu lassen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die weltliche Herr- 
schaft des Papstes sich auf die Dauer werde behaupten lassen und es ist 
vielleicht möglich, daß Italien in Folge großer Ereignisse, die nicht vor- 
auszusehen sind, dereinst auch noch in den Besitz Venetiens gelange. Allein 
vorerst ist Italien viel zu schwach, um das eine oder das andere mit 
Gewalt erzwingen zu können. Galt es im Jahre 1860 mit rascher That- 
kraft Schlag auf Schlag die Umstände auszunützen, so mochte es jetzt seine 
Aufgabe sein, sich in dieselben zu fügen und sich vorerst in sich selbst zu
	        
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