Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierter Jahrgang. 1863. (4)

Deutschland. 85 
Anforderungen, welche das Cabinet von Berlin der Frankfurter Reformacte 
gegenübergestellt hat, ohne sich vor Erlangung dieser Zugeständnisse auf eine 
Verhandlung über dieselben einlassen zu wollen.  .  .   
      „I. Ein Veto Oesterreichs und Preußens. Wiederholt erklärt 
das k. preußische Staatsministerium in seinem Vortrage die Uebereinstimmung 
zwischen Oesterreich und Preußen für die unentbehrliche Grundlage jeder 
wirksamen Action des Bundes. Derselbe Vortrag fügt aber sogleich hinzu, 
daß diese Uebereinstimmung schwer herzustellen und festzuhalten sei, und statt 
eines Mittels, diese Schwierigkeit zu überwinden, wird für die Zukunft das 
förmliche Recht verlangt, den Mangel an Uebereinstimmung durch ein Veto 
zu constatiren! Weder Oesterreich noch Preußen — so sagen die preußischen 
Minister — können der Freiheit vollständig entsagen, ihre Stellung zu den 
Fragen europäischer Politik nach den Interessen der Gesammtheit ihrer Mo- 
narchien zu regeln. Ausgehend von diesem Satze erklären sie es für einen 
in der Praxis unausführbaren Anspruch, daß die Politik jeder dieser beiden 
Mächte in der Gesammtpolitik des Bundes nach den Beschlüssen des Cen- 
tralorgans desselben aufzugehen habe. Durch den Mechanismus einer Mehr- 
heitsabstimmung kann nach ihrer Ansicht die Lösung dieser Schwierigkeit nicht 
vermittelt werden. Sie ziehen sich deßhalb auf die reine Negation des natio- 
nalen Bundes zurück, auf ein Veto für beide Mächte. 
      „Hier muß nun zunächst die Thatsache ins Auge fallen, daß das k. preußische 
Staatsministerium eine Forderung, welche die kais. Regierung selbst 
keineswegs für sich erhoben hat, nicht nur im Namen Preußens, sondern 
auch im Namen Oesterreichs aufstellt. Man zeigt sich also um Oesterreichs 
Unabhängigkeit von einer gemeinsamen deutschen Politik in Berlin strenger 
besorgt als in Wien. Offenbar hat man nicht für die preußische Monarchie 
allein ein so unbeschränktes Maß der Unabhängigkeit fordern wollen, Ist 
nicht schon dieser einzige Umstand genügend, um über die Natur dieser ganzen 
Forderung das klarste Licht zu verbreiten? Oesterreich seinerseits be- 
gehrt kein Veto. Es steht, wie Preußen, nur mit einem Theile seiner 
Besitzungen im deutschen Bunde, es ist in Europa eine selbständige Macht, 
wie Preußen; nur die Anerkennung  der Gemeinsamkeit mit Deutschland, 
nur der Wille, die gesammtdeutschen Interessen als die eigenen zu behan- 
deln, kann für Oesterreich, wie für Preußen, dem Entschlusse zu Grunde lie- 
gen, in Fragen deutscher Politik sich durch die Entscheidungen 
des Bundes bestimmen zu lassen. Ohne diesen Willen, ohne die Er- 
kenntniß, daß beide große Mächte den Kreis der Interessen, für welche sie 
als solche einzustehen berufen sind, um ihrer Selbsterhaltung willen nicht auf 
den eigenen Länderumfang beschränken dürfen, daß sie ihn auf das gesammte 
Deutschland ausdehnen müssen — ohne diese Erkenntniß und diesen Willen 
fallen weder Preußens noch Oesterreichs Interessen mit denjenigen Deutsch- 
lands zusammen. Es besteht alsdann keine solche Identität, es besteht, wenn 
die eine der beiden Mächte am Bunde festhält, die andere nicht, keine gerechte 
Gegenseitigkeit, es können und müssen dagegen die verhängnißvollsten Con- 
traste hervortreten. Sollen diese Contraste künftig zu einer förmlichen Regel 
des Bundesrechtes erhoben werden? Soll die eine der beiden Mächte ein Veto 
gegen einen Krieg im Süden, die andere gegen einen Krieg im Norden ein- 
legen dürfen? Und soll in Zukunft nur der nicht-österreichische und nicht- 
preußische Theil Deutschlands verpflichtet bleiben, einen Gesammtwillen des 
Bundes in den höchsten deutschen Angelegenheiten anzuerkennen? 
      „Mit vollem Grunde wird übrigens zugleich hervorgehoben werden dürfen, 
welche starke und zuverlässige Bürgschaft die Bestimmungen der Reformacte 
dafür gewähren, daß in der Bundesabstimmung nur das klare und unbe- 
streitbare Interesse Deutschlands zum Ausdrucke gelange. Was der Vortrag 
vom 15. September über die Stimmverhältnisse im Plenum sagt, ist nicht 
genau zutreffend, da die Reformacte kein Plenum kennt. Von den 21 Stim-
	        
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