Die süddeutschen Staaten. 143
der zweiten Kammer zu; angeklagt können nur werden die Minister und
Mitglieder der obersten Staatsbehörde wegen einer durch Handlungen oder
Unterlassungen wissentlich oder aus grober Fahrlässigkeit begangenen Ver-
letzung der Verfassung oder anerkannt verfassungsmäßiger Rechte, oder schwerer
Gefährdung der Sicherheit oder Wohlfahrt des Staates. Der Beschluß er-
fordert Mehrheit. Das Richteramt wird von der ersten Kammer als Staats-
gerichtshof geübt in Verbindung mit dem Präsidenten des obersten Gerichts-
hofs und acht weitern Richtern, welche das Loos aus der Reihe der Collegial-
richter bestimmt. Bildung und Verfahren des Staatsgerichtshofs sind einem
besondern noch nicht vereinbarten Gesetz vorbehalten.
10. Febr. (Bayern). Wahlen zum ersten Zollparlamente nach allge-
meinem und directem Stimmrecht.
Die Wahlbewegung war seit einem Monat eine überaus lebhafte gewesen;
fast in allen Wahlkreisen hatten zahlreiche Wahlversammlungen stattgefunden,
in denen die verschiedenen Candidaten sich vorstellten und ihre polit. Grund-
sätze darlegten. „Anfangs schienen die liberalen Parteien, denen die große
Mehrheit der II. Kammer angehört, die besten Aussichten zu haben, bis erst
unmittelbar vor dem Wahltage so zu sagen der gesammte kath. Clerus ein-
müthig und auf der ganzen Linie in den Kampf eintrat und den Ausschlag
gab. Die Folge ist ein eben so unerwarteter als überwältigender Sieg der
particulaxistisch -clericalen Anschauung und eine vollständige Niederlage der
sog. Mittelpartei. Die Frage einer engeren Verbindung zwischen Süd- und
Norddeutschland mußte die entscheidende sein. Diese nun wird von einer
Partei (Fortschrittspartei) erstrebt, von einer anderen (particularistisch-cleri-
cale Partei) aufs äußerste bekämpft, die dritte (die sog. Mittelpartei) will
sie an sich kommen lassen. Von den 48 Abgg. Bayerns zum Zollparlament
erringt nun die Fortschrittspartei 12, die Mittelpartei 9, die particularistisch-
clericale 26 Mitglieder, wozu dann noch eine partilularistisch - demokratische
Wahl kommt. Vergleicht man das Resultat mit den Parteiverhältnissen in der
II. Kammer, so treffen in dieser auf die Fortschrittspartei 3/10 auf die Mittel-
partei ca. 4/10, auf die rein particularistische Partei ca. 1/10 der Mitglieder.
Nach diesen Verhältnissen müßte im Zollparlament die Fortschrittspartei mit
14—15 (statt 12), die Mittelpartei mit 24 (statt 9), die particularistisch-
clericale mit 4—5 (statt 26) Abgeordneten vertreten sein., Die Fortschritts-
partei hat demnach etwas eingebüßt; bezüglich der beiden anderen Parteien
ist dagegen das Zahlenverhältniß geradezu auf den Kopf gestellt: die parti-
cularistisch-clericale Partei hat, was die Mittelpartei haben sollte. Bezüglich
der Lebensstellung der Gewählten wird bemerkt, daß die particularistische
Partei überwiegend Adelige und Beamtete gewählt hat, während die gewähl-
ten Industriellen ausschließlich der Fortschritts- und Mittelpartei angehöre
Noch stärkere Contraste kommen zum Vorschein, wenn man nach Landestheiten
ausscheidet. Hier sind, die schwäbischen Wahlbezirke ausgenommen, deren Ver-
hältnisse annähernd dieselben wie bei den letzten Landtagswahlen von 1863, in-
dem Altbayern und Unterfranken überwiegend particularistisch-conservativ, Ober-
und Mittelfranken und die Rheinpfalz überwiegend liberal gewählt haben,
nur daß der confessionelle Gegensatz sich dießmal noch vollständiger ausprägt.
In Altbayern und Unterfranken, die keinen Wahlbezirk mit vorwiegend pro-
testantischer Bevölkerung haben, ist kein Candidat der Fortschrittspartei durch-
gedrungen, in den protestantischen Bezirken von Mittel- und Oberfranken
kein Candidat der particularistischen Partei. Im ganzen diesseitigen Bayern
haben nur 2 oder 3 Bezirke mit ausschließend oder vorherrschend katholischer
Bevölkerung Mitglieder der Mittel- oder Fortschrittspartei gewählt. Je
stärker in gemischten Bezirken die protestantische Minderheit, um so schwächer
war das Uebergewicht der Stimmen, das einem particularistischen Candidaten
zum Siege verhalf.