Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunter Jahrgang. 1868. (9)

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Frankreich. 
gebrochen und eine viel eingreisendere Reform in Aussicht genommen. Auf 
einen Rapport des Kriegsministers vom 26. Oct. 1866 berief der Kaiser eine 
Commission von fünf Ministern, der Marschälle von Frankreich, der Ge- 
nerale und hoher Intendanturbeamten, welche unter seinem Vorsitze die Frage 
zu berathen hatte, wie man am besten die nationalen Kräfte in die Lage 
versetzen könne, die Vertheidigung des Landes und die Aufrechthaltung seines 
politischen Einflusses zu sichern? Der „Moniteur“ vom 12. Dec. vor. Is. 
machte bekannt, daß die Commission ihr Project zur Neorganisation der 
Armee dem Staatsrath übergeben habe und verkündigte die Hauptgrund- 
lagen dieser Reorganisation. In erster Linie war die Frage berathen 
worden: ob angesichts der preußischen Ersolge und der überlegenen preußi- 
schen Wehrkraft die allgemeine Wehrpflicht auch von Frankreich zu 
adoptiren sei, und die Generale in ihrer Mehrheit hatten diese Frage ver- 
neint, weil sie die bekannten Vorzüge ihrer seitherigen Berussarmee den ihnen 
unbekannten Eigenschaften eines Volksheers nicht geopfert wissen wollten. 
Den Ausschlag hatte aber etwas anderes gegeben: der Widerwille der Nation 
hatte in so unverkennbarer Weise gegen diesen Gedanken reagirt, daß der 
Kaiser auch beim besten Willen ihn nicht festzuhalten vermochte. 
Die Reorganisations-Commission stellte nunmehr als erstes Postulat eine 
Feldarmee von 800,000 Mann zur Verwendung gegen Außen und eine ge- 
nügende Streitmacht zur Sicherung im Innern, zur Bewachung der Festungen 
und zur Küstenvertheidigung. Sie klasificirte diese Kriegsmacht nach den 
drei Kategorien: 1) Active Armee mit sechsjähriger Dienstzeit, also sechs 
Jahrescontingente, Ausgehobener, Freiwilliger und Einsteher; 2) Reserve, 
gleichsalls mit sechsjähriger Dienstzeit, die Freigeloosten umfassend und je 
nach ihren Loosnummern zerfallend in erstes Aufgebot, auch im Frieden 
zur Verfügung des Kriegsministers, und zweites Aufgebot, nur in Kriegs- 
zeiten durch kaiserliches Decret berufbar, beide mit der Erlaubniß zum Hei- 
raten nach den ersten vier Dienstjahren; 3) Landwehr (mobile National= 
garde) mit dreijähriger Dienstzeit, aus den Soldaten, welche sechs Jahre im 
Heer oder in der Reserve gedient, wie aus den Losgekauften zusammengesetzt, 
und nur im Kriegsfalle durch Specialgesetz verfügbar. Zur Erleichterung 
der Lasten, welche dieses neue Project dem Land auferlegte, und gegen welche 
die öffentliche Meinung sehr lebhaft sich sträubte, glaubte der Staatsrath ver- 
schiedene Modificationen anbringen zu müssen, und so gelangte das von ihm 
redigirte Gesetzproject über die Armee und die Nationalgarde 
unterm 7. März 1867 vor den gesetzgebenden Körper. Der Moniteur vom 
9. März brachte ein Nesumé dieses Projects, wonach mit Festhaltung neun- 
jähriger Dienstzeit die Gesammtzahl des Jahrescontingents für die Armee 
verwendet werden sollte in der Art, daß die erste Klasse fünf Jahre in der 
Armee, vier in der Reserve, die zweite vier in der Reserve und fünf in der 
mobilen Nationalgarde dienen, letzterer überdieß sämmtliche Losgekauste an- 
gehören sollten; Linie und Reserve standen auch im Frieden zur Disposition 
des Kriegsministers, die Nationalgarde blieb nur durch Specialgesetz verfügbar 
oder — war der gesetzgebende Körper nicht versammelt — durch Decret, das 
aber binnen zwanzig Tagen durch die Legislative mit Gesetzkraft versehen 
werden mußte; die Nalionalgarde hatte sich während ihrer fünfjährigen 
Dienstzeit militärischen Uebungen zu unterwerfen, welche die Zeit von dritt- 
halb Monaten im Ganzen, von zwanzig Tagen in einem Jahre nicht über- 
steigen durften und während deren die Angehörigen der militärischen Disciplin 
und den Kriegsgesetzen sich zu unterwerfen hatten. 
Dieser Entwurf erfuhr in der Kammercommission vielfache Anfech- 
tungen und Modificationen, so daß der Berichterstatter Gressier in der Sitzung 
vom 8. Juni einen im Einverständniß mit dem Staatsrath ganz neu re- 
digirten Entwurf einreichte, welcher nicht mehr das volle Jahrescontin= 
gent verwenden, dasselbe vielmehr alljährlich durch Specialgesetz so feststellen