Frankreich. 397
15. Mai. Frankreich muß auf die Reclamationen Englands und JItaliens
in der tunesischen Frage auf eine ausschließliche Begünstigung der
franz. Gläubiger verzichten; statt einer bloß französischen wird eine
gemischte Commission einzusetzen beschlossen.
18—23. Mai. Senat: Debatten über die Lehrfreiheit an den höheren
Unterrichtsanstalten.
Veranlassung dazu gibt eine Petition, welche vom Staate eine sorgfälti-
gere Ueberwachung des höheren Unterrichtswesens verlangt. Die Petition
enthält eine Reihe von Denunciationen angeblich materialistischer Aeußerungen
einzelner Professoren und die Verhandlung war verschoben worden, ausdrück-
lich um den Kirchenfürsten Gelegenheit zu geben, an derselben Theil zu neh-
men. Die Senatscommission trägt darauf an, über die Petition zur Tages-
ordnung überzugehen. Die ganze Angelegenheit ist gegen den Unterrichts-
minister Duruy gerichtet. Die Versammlung gestaltet sich unter Führung
der Kirchenfürsten zu einem förmlichen Inquisitionstribunal, vor dem sich
der Minister und sein Generalsecretär nur sehr schwächlich vertheidigen, in-
dem sie versichern, daß die materialistische Richtung an der Universität nicht
bestehe und die Regierung besorgt sei, sie nicht aufkommen zu lassen. Sainte-
Beuve ist der einzige, der den Muth hat, vor den widerwilligen Senatoren
für die Freiheit der Wissenschaft einzustehen. Selbst Leverrier gibt sie den
Anmaßungen der Kirche gegenüber ganz, selbst Michel Chevalier wenigstens
halb Preis. Doch wagt es die Majorität des Senates nicht, den Bischöfen
ganz zu Willen zu sein. Es kommt zu einem doppelten Votum. Zuerst
spricht sich der Senat mit 84 gegen 31 Stimmen gegen die von den Petitio-
nären verlangte Freiheit des höheren Unterrichts (wie die Elericalen sie ver-
stehen und verlangen), und dann mit 80 gegen 43 Stimmen gegen die auf
bestimmte materialistische Kundgebungen gerichteten Ausführungen der Peli-
tion, mithin für die einfache Tagesordnung aus. Michel Chevalier und
Leverrier stimmten für jene Freiheit des Unterrichts, aber gegen die Denun-
ciationen.
20. Mai. Gesetzgeb. Körper: Debatte über den Handelsvertrag mit England
und das Princip der Handelsfreiheit. Rede Nouher's und Favre's.
Zugeständniß desselben für die Zukunft.
Rouher häust eine Masse (vielfach übrigens sehr wenig zuverlässiger) statisti-
scher Angaben zusammen, um zu beweisen, daß der Handelsvertrag mit England
für Frankreich durchaus befriedigende Resultate gehabt habe. England, schließt
er, versorgt die Märkte Europa's mit Producten im Werthe von 1600 Mill.,
während Frankreich nach denselben Märkten für 2300 Mill. versende. Frank-
reich sei nur im Orient noch binter England zurück, aber auch da werde das
Freihandelssystem nachhelfen. Der Redner geht hierauf auf die augenblicklich herr-
schende allgemeine Krisis über, und verkündet dann, daß seit 14 Tagen dieselbe
abzunehmen anfange. Verlange man jetzt von der Regierung, den Handels-
vertrag zu kündigen, so antworte sie mit einem entschiedenen Nein. (Sehr
gut! sehr gut! Wiederholte Bravo's.) Man frage: was die Regierung thun
wolle? Aufmerksam und maßvoll weiter schreiten. Er gesteht aber im Fol-
genden zu, daß weitere Tarifveränderungen von nun an unter Mitwirkung
des gesetzgebenden Körpers vor sich gehen sollen. Er wird gegen den Schluß
hin etwas bombastisch, und behauptet endlich schwungvoll, daß Vergessen-
heit das Loos des Schutzzolls und seiner Bekenner sein werde. Pouyer=
Quertier hält seine Behauptungen aufrecht. Thiers protestirt gegen das
constitutionelle Recht der Regierung, Handelsvertrage abzuschließen. Picard
ruft dazwischen: Die Nation ist Souverän. Präsident: Die Nation hat
das Staatsoberhaupt mit seiner Vollmacht betraut. Rouher: Am constitu-