Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunter Jahrgang. 1868. (9)

Frankreich. 405 
langsamen Hungertob verurtheilen. Es muß eine Macht den Muth haben, 
sich zuerst dafür zu erklären, und diese Macht soll die größte, die stärkste, die 
glorreichste, kurz soll Frankreich sein. Darum aber darf man nicht in der 
seitherigen Politik sich festrennen. „Es ist Zeit, einen besseren Weg wieder 
einzuschlagen. Es gibt nur einen einzigen Mann, welcher die Lage von dem 
unbekannten Etwas, das sie belastet und aufreibt, befreien, der Production 
ihre Thätigkeit, den Gemüthern das Vertrauen, Europa die Ruhe zurückgeben 
kann. Er soll sagen, er kann es durch seinen Senat — daß er fortan ohne 
Ihre Zustimmung keinen Krieg mehr führen werde, und Ihre Budgets wer- 
den gewiß kein Deficit mehr darbieten, und Frankreich wird den ihm gebüh- 
renden Nang in der Welt wieder einnehmen und nicht mehr zu unfrucht- 
baren Opfern verdammt sein. Dieß ist das letzte Wort der Frage, die Noth- 
wendigkeit des Augenblicka. Wir haben es früher im Namen der Freiheit 
verlangt: wir verlangen es heute im Namen der Rettung unserer Finanzen. 
Sie wiederholen unaufhörlich — und dieß ist auch der Sinn der meisten 
Ministerreden, die einen so gerechten Anspruch auf Ihre Beifallsbezeugungen 
haben — daß, wenn bedeutende Ausgaben geschahen, auch prachtvolle Ergeb- 
nisse erzielt worden sind. Ich will hier keine Kritik zum Lobe mischen; ich 
nehme es als Voraussetzung an. Nur sage ich, daß, wenn Sie Wohlthäter 
sind, Sie jedenfalls sehr kostspielige Wohlthäter sind. Wenn Frankreich 
reich genug ist, um seinen Ruhm zu bezahlen, so ist es doch 
nicht reich genug, um das Kaiserreich unter solchen Bedingun- 
gen bezahlen zu können. Es ist Zeit, daß es mit sich zu Rathe gehel 
(II est temps du'elle avlse1) (Heftiger Widerspruch, Murren: Beifall links; 
zur Ordnung!) Präsident Schneider: Ich bin genöthigt, Hrn. J. Favre 
zur Ordnung zu rusen wegen des letzten Gedankens, den er ausgesprochen 
hat. Wir geben hier Beweise genug von Unabhängigkeit und Autorität; die 
Freiheit unserer Discussionen ist, glaube ich, offenkundig genug, daß es wohl 
weder als gerecht noch als geziemend gelten darf, unser Verfassungswesen in 
der Art anzuschwärzen. Hr. Rouher betritt hierauf sehr ausgebracht die 
Tribüne, einzig, wie er sagt, um auf die letzten Worte des ehrenwerthen J. 
Favre zu antworten, dessen Versuche, die Verfassung zu schmähen (tentatives 
T#injures) unmächtig sind, und die nur mit Wegwerfung behandelt zu werden 
verdienen. (Bravol) J. Favre: Gerade wie Ihre Budgets. Hr. Rouher 
versichert, daß das Land derartige Worte desavoniren werde... JIch be- 
trachte, sagt er, die Rüstungen, die wir begehren, als nothwendig; allein 
mein innigster Wunsch ist der, daß sie vollkommen unnöthig sein mögen. 
Ja ich würde es als die höchste, die unheilbarste Unklugheit ansehen, wollten 
wir die Verantwortlichkeit, die Hr. Favre uns anempfiehlt, auf uns nehmen. 
Wir müssen bereit und organisirt sein, wir müssen die Ereignisse mit Festig- 
keit, Aufrichtigkeit und Mannhaftigkeit in's Auge fassen und einsehen, 
daß eine große Nation sich im gegebenen Augenblicke nicht mit ihrer Nach- 
lässigkeit oder ihrer Schwäche entschuldigen darf. Müssen wir aber darum 
den Krieg herbeiwünschen? Ich bin mit Hrn. Favre in dem einen Punkte 
völlig einverstanden, daß wir kein Interesse haben, den Frieden, dessen Europa 
sich erfreut, zu verletzen. Diese Politik haben wir fortwährend allen Mächten 
gegenüber befolgt, in Griechenland, in Kreta und wo es nur zu gähren be- 
gann. Welches war Deutschland gegenüber unsere Haltung? Befanden wir 
uns in einem so gereizten Zustande, wie Hr. J. Favre sagt, daß es schien, 
als seien wir und Preußen bereit, uns gegenseitig anzugreisen? Nein! Wir 
haben angesichts Deutschland die Achtung vor seiner Wesenheit (entité) be- 
kundet; wir haben in den Fragen, die in den unserer Grenze nahegelegenen 
Landestheilen verhandelt werden, das Princip der Achtung der Nationalitäten 
aufgestellt, und indem wir verkündigten, daß wir uns enthalten würden, ver- 
langten wir, daß auch andere sich enthalten, und so haben wir den einzelnen 
Autonomien ihre Freiheit und folglich auch ihre Krast wiedergegeben. Liegt in
	        
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