Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunter Jahrgang. 1868. (9)

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tlebersicht der Ereignssse des Jahres 1868. 
Frank-Wäre der Congreß zu Stande gekommen, so würde Frankreich darin 
reich, unzweifelhaft die Rolle einer Art Präsidialmacht der Vereinigten 
Staaten von Europa gespielt haben. Allein der Versuch scheiterte 
und binnen der drei nächsten Jahre folgten sich Schlag auf Schlag 
die Wiederherstellung der nordamerikanischen Union, das vollständige 
Scheitern des mexicanischen Unternehmens und die Erhebung Preußens, 
die dem bisherigen Dualismus und damit der Schwäche des nur 
durch einen lockeren Staatenbund geeinigten Deutschlands ein Ende 
machte. Frankreich war plötzlich nicht mehr unbestritten die erste 
Macht des Continentes und momentan außer Stande, die seinen 
Händen entfallenen Zügel alsbald wieder zu ergreifen; die kaiser- 
liche Politik hatte durch den fast gleichzeitigen Ausgang des mexica- 
nischen Drama's ihr Prästige wesentlich verloren; die Rückwirkung 
all dieser auswärtigen Ereignisse auf die inneren Zustände des Landes 
machten sich augenblicklich fühlbar, Die Stellung des Kaisers nach 
innen und außen war plötzlich eine andere geworden und das zweite 
Kaiserreich trat in eine Krisis ein, die noch nicht abgeschlossen ist. 
Merkwürdiger Weise war das erste Gefühl der französischen 
Nation nach den Ereignissen von 1866 nicht dasjenige, das Resultat 
derselben sofort und um jeden Preis wieder rückgängig machen zu 
wollen, sondern vielmehr das, durch Erschließung seiner brach ge- 
lassenen reichen Kräfte, durch Entfesselung derselben auf allen Ge- 
bieten staatlicher und socialer Thätigkeit im Frieden mit Deutschland 
um die Palme zu ringen. Und auch der Weg dazu schien schon 
gefunden. Deutschland und Frankreich litten an geradezu entgegen- 
gesetzten Gebrechen: Deutschland an einer allzu großen Decentrali- 
sation, Frankreich an übertriebener Centralisation. Jene wie diese 
haben ihre unläugbaren gewaltigen Vortheile, wenn auch Vortheile 
ganz entgegengesetzter Art; die Richtung mehr nach dem einen oder 
dem andern entspricht dem innersten Volksgeiste der beiden Nationen, 
wenn auch kaum geläugnet werden kann, daß beide darin zu weit 
und zwar viel zu weit gegangen sind. In Deutschland war dies in 
steigendem Grade eingesehen worden und die rückläufige Bewegung 
schon seit längerer Zeit eingetreten: die Erfolge Preußens im Jahre 
1866 beruhten eben darauf, daß es sich dieser Bewegung zu be- 
mächtigen wußte. In Frankreich fehlte es noch vielfach an der Ein- 
sicht in die eigenen Gebrechen und für die Hebung derselben war