Uebersicht der Erelgnisse des Jahres 1868. 537
übertrug. Die nationalliberale Partei ist deßhalb heftig getadelt Nortd.
worden und vom Standpunkt der constitutionellen Theorie aus nicht Vrnt.
ohne Grund. Praktisch ist die ganze Frage indeß von nicht gar
großer Bedeutung. Die ganze Angelegenheit machte im Grunde bloß
darum auf die öffentliche Meinung einen sehr unangenehmen Ein-
druck, weil sie nur allzu lebhaft an die Conflictszeit erinnerte. Die
Haltung und die Stellung des Bundeskanzlers ist inzwischen doch
eine merklich andere geworden. Schon vor Mitte des Jahrs war
in der Bundeskasse ein erhebliches Deficit eingetreten, das nicht bloß
von einer Mindereinnahme im Postwesen, sondern namentlich auch
von einer Mehrausgabe der Militärverwaltung in Folge der ge-
steigerten Lebensmittelpreise herrührte. An eine Nachbewilligung von
Seite des Reichstags für Militärzwecke war nicht zu denken. Der
Bogen ist in dieser Beziehung aufs äußerste gespannt und läßt sich
unmöglich noch mehr anspannen. Der Bundeskanzler muthete daher
dem Bundesrath nach dem Schlusse der Reichstagssession einfach zu,
eine Anticipation der Matricularumlagen für 1869 ohne vorherige
Bewilligung der Volksvertretung zuzugestehen. Der Bundesrath ging
indeß nicht darauf ein und die preußische Regierung sah sich ge-
nöthigt, auf der einen Seite starke Beurlaubungen in der Bundes-
armee eintreten zu lassen und auf der andern die Rekruten um volle
drei Monate später als gewöhnlich einzuberufen.
Mitten in die Session des nordd. Reichstags fiel die erste Zoupar-
Session des deutschen Zollparlaments. Berlin sah zum ersten Male leen.
die Vertreter Süd= und Norddeutschlands vereinigt in seinen Mauern.
Der König von Preußen eröffnete das Zollparlament persönlich mit
einer Rede von entschieden nationaler Färbung und eine Anzahl
süddeutscher Abgeordneter der nationalen Partei wünschten darauf
mit einer Adresse von demselbem Gepräge zu antworten, nachdem
schon vorher in der Presse die Wünschbarkeit einer Ausdehnung der
Competenz des Parlaments auf sämmtliche in Art. 4 der nordd.
Bundesverfassung aufgezählten materiellen Interessen lebhaft erörtert
worden war. Ihnen trat jedoch die Majorität der süddeutschen Ab-
geordneten, die sich, der ultramontanen, demokratischen und streng-
particularistischen Richtung angehörig, 57 an Zahl als „süddeutsche
Fraction“ zusammengethan hatten, mit Eifer entgegen. Um des Frie-
dens willen verzichtete die Majorität des Parlamems auf die Ge-