Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunter Jahrgang. 1868. (9)

Preußen und der norddeutsche Bund. 79 
geeignet für den civilisirten Staat erklären, so wird diese Behauptung durch 
die Thatsache widerlegt, daß der civilisirte Staat vorerst nur in christlichen 
Ländern entwickelt worden ist. 13) Aber es ist eine zugleich religiöse und 
politische Wahrheit, daß das Christenthum eine vom Staate unabhängige, 
zunächst nicht für den Staat bestimmte Religion ist. Das Christenthum 
schreibt keine besondere Staatsverfassung noch bestimmte Staatsgesetze vor. 
14) Die dogmatischen Sätze und Gegensätze der christlichen Confessionen sind 
kein Ausdruck des staatlichen Bewußtseins. Der Staat braucht sich darum 
nicht zu bekümmern, sondern hat dieselben dem Glauben und der Freiheit 
der Kirchen und der einzelnen Individuen zu überlassen. Kein Dogma ist 
für den Staat rechtsverbindlich. 15) Von mehr Interesse und Bedeutung 
für den Staat, als das Dogma der verschiedenen Kirchen ist ihre Verfassung 
deßhalb, weil in ihr ein Element der Macht und Autorität zu Tage tritt, 
welches der Staat verspürt. 16) Einen höheren Werth aber als Dogma 
und Verfassung der Kirchen haben für den modernen Staat die sittlichen 
und humanen Kräfte, welche in der christlichen Religion wirksam sind. 
Diese Kräfte zu schonen und zu schützen, ist eine Pflicht und Sorge des 
modernen Staats.“ 
4. Juni. Allgemeine deutsche Lehrerversammlung in Kassel. Dieselbe 
 
beschließt fast einstimmig: 
„Die regelmäßige Berufung von Schulsynoden ist für die Entwicklung 
des deutschen Schulwesens nicht nur nützlich, sondern auch nothwendig. Es 
dürfen keine Gesetze in Schulsachen erlassen werden, über welche nicht die 
Schulsynoden gehört sind. Diese wählen selbständig ihre Vorsitzenden, und 
haben die Pflicht Commissarien der Regierung oder der betreffenden Behörden 
jederzeit zuzulassen." 
4.6. (Oldenburg). Eröffnung des Landtags. Der Minister v. Berg 
weist in der Eröffnungsrede auf die Opfer hin, welche der Groß- 
herzog der Neugestaltung der deutschen Verhältnisse neuerdings zu 
bringen sich entschlossen habe. Vorlagen über Ausscheidung des 
Kronguts und über Veränderung des Wahlsystems. 
Dem großh. Hause war bisher aus den Domänen ein Krongut mit 
einem Pachtertrage von 85,000 Thlrn. und eine gleiche Summe aus den 
Einkünften des Domanialvermögens überwiesen, letztere unter dem Vorbehalt 
einer spätern Vereinbarung zwischen dem Regierungsnachfolger und dem 
Landtage. Nach der Vorlage soll nun statt dieser Summe ein dieselbe durch 
seinen Pachtertrag ausgleichendes Krongut aus dem Domanialvermögen aus- 
geschieden und mit dem ältern Krongut dem Großherzog zu seiner und des 
großh. Hauses Unterhaltung als Familien-Fideicommiß überwiesen, und dessen 
Verwaltung unter staatlicher Controle vom Großherzog geführt werden. Durch 
Ueberweisung dieses Fideicommisses unter die Grund-, Gebäude- und Ein- 
kommensteuer, sowie durch Uebernahme der Verwaltungskosten und andern 
Lasten und Pflichten, würde dem Land eine jährliche Erleichterung von etwa 
30,000 Thlrn. erwirkt werden. Zur Ausscheidung sind im Herzogthum die vormals 
Bentinck'schen Besitzungen, im Fürstenthum Lübeck die sämmtlichen Waldungen 
und Moore des Amtes Eutin ausersehen, und es würden davon entfallen: 
auf Oldenburg 76 Proc., auf Lübeck mit Ahrensböck 16 1/2 Proc. und auf 
Birkenfeld 7½ Proc. — Die andere Vorlage schlägt Einführung der allgemeinen 
und indirecten Wahlen vor, an Stelle des Dreiklassensystems, 1 Wahlmann 
auf je 500 und 1 Abgeordneter auf je 10,000 Einwohner, sowie Wahlkreise 
für 2 Abgeordnete.  
5.6. (Nordd. Bund). Der Bundesrath beschließt ein gemeinsames 
Strafgesetz und einen gemeinsamen Strafprozeß ausarbeiten zu lassen.