Full text: Europäischer Geschichtskalender. Einundzwanzigster Jahrgang. 1880. (21)

Uebersicht der polilischen Eulwichlung des Jahres 1980. 593 
vorerst verzichten und gerieth zu Ende des Jahrs in einen Con- 
flict mit den Boern von Transvaal, in dem das Unrecht nach 
Gladstone's eigenem Geständnisse ganz auf seiner Seite lag. In 
Mittelasien war die von den Tories versuchte Eroberung Afghani= 
staus wesentlich mißglückt und lastete schwer auf dem englisch-indi- 
schen Budget. Die neue Regierung beschloß, auf den ursprünglichen 
Plan ganz zu verzichten, ihre Truppen aus Kabul und Kandahar zu- 
rückzuziehen und sich mit einer Art freundschaftlicher Ueberwachung 
gegen Rußland und russische Umtriebe zu begnügen, die vielleicht 
zu erreichen ist, vielleicht aber auch als vollkommen trüherisch sich 
erweisen wird. 
Gladstone's anfänglich unruhige Orientpolitik sagte keiner der 
europäischen Mächte zu, ausgenommen allein Rußland, das dadurch 
in die Lage kam, sich, ohne darum auf irgend etwas verzichten zu 
müssen, zurückhalten zu können. Und dazu hatte es allen Grund. 
Wenn man Rußlands inneren Zustand mit kurzen Worten characte- 
risiren will, so muß man sagen, daß der czarische Absolutismus 
abgewirthschaftet hat, daß er einfach unmöglich geworden ist, ohne 
daß bis jetzt auch nur der Versuch gemacht worden wäre, den Aus- 
gangspunct einer neuen Entwickelung zu gewinnen. Es ist ganz 
und gar unmöglich, daß eine Bande Verzweifelter, die sich Nihilisten 
nennt, auf die Dauer eine solche Rolle spielen und ein ganzes großes 
Reich in Angst und Schrecken erhalten könnte, wenn nicht die sämmt- 
lichen höheren Classen der russischen Gesellschaft, Alle, die irgendwie 
selbst denken, bewußt oder unbewußt mit ihnen sympathisierten und 
ihnen ihre Werkzeuge leicht und willig und nach Bedürfniß zur 
Auswahl lieferten. Die Conspiration liegt in Rußland gegenwärtig 
gewissermaßen in der Luft, zieht ihre Kreise immer näher und näher 
um den Kaiser herum und reicht bereits bis in seine nächste Umgebung 
hinein. Daß es die Verschwörer hie und da wohl auch auf einen 
verhaßten hohen Würdenträger, aber in erster und letzter Linie doch 
offenbar auf den Kaiser selbst abgesehen haben, ist auffallend, im 
Grunde aber begreiflich. Alexander II. ist durchaus kein hassenswerther 
Mann, im Gegentheil nach allen Schilderungen liebenswürdig und 
für sein Volk aufrichtig wohlwollend, er wird auch kaum von irgend 
einem der Verschwörer persönlich gehaßt. Warum trachten sie ihm 
denn fortwährend nach dem Leben trotz der imminenten Gefahr, die 
dabei auch ihnen droht? Der Czar ist gleichsam der Schlußstein 
eines ungeheuren Gewölbes, in dem sich die Nation Wingeschtaen 
Schulthess, Europ. Geschichtskalender. XXI. Bd. 
Nuß- 
land.