Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 10.) 71 
und was darüber verlautet, ist nur „freisinnige“ Tendenzmacherei, welche 
sich gegen die Nationalliberalen richtet. Alle jene Vermutungen gehen von 
der falschen Voraussetzung aus, daß Bismarck immer eine Partei gegen die 
andere ausspielt, um sie alle klein zu kriegen .  . . Ein Gebot der Klugheit 
ist es und im Interesse der Nationalliberalen würde es liegen, wenn sie 
nicht argwöhnisch an einen „Umschwung“ glauben, sondern bereit sein wollten, 
zu ihrem Teile auch an der Steuerreform mitzuwirken, wie sie es bei der 
Sozialreform und Kolonialpolitik in erfreulichster Weise gethan haben. 
10. April. (Kongo.) Dem Bundesrat und Reichstag geht 
das Weißbuch, betr. die Kongofrage, zu. (Vgl. St A. 85, 8557 u. ff.) 
Das Weißbuch enthält 44 Nummern und umfaßt den Zeitraum vom 
6. März 1884 bis zum 26. Februar 1885, also bis zum Schlusse der 
Berliner Konferenz. Eingeleitet wird die Sammlung durch einen Bericht 
unseres Botschafters in London über den Inhalt des am 26. Febr. 1884 
abgeschlossenen englisch-portugiesischen Vertrages betreffend den Kongo und 
Zambesifluß und das an der Westküste von Afrika zwischen dem 8° und 5° 
12´ 1“ südlicher Breite belegene Gebiet. In dem Bericht wird betont, daß 
England durch diesen Vertrag eine bevorzugte Stellung und die Möglichkeit 
eingeräumt bekomme, seinem Handel trotz der Versicherung von gleicher Be- 
handlung aller Nationalitäten durch Erteilung von Monopolen, Konzessionen 
und dergleichen besondere Vorteile zu verschaffen. Es werden sodann die 
Hauptbestimmungen dieses englisch-portugiesischen Vertrages zur Kennzeichnung 
der Gefahren, welche dem gesamten Handel drohten, mitgeteilt. In einem 
weitern Berichte des Botschafters vom 11. März 1884 wird bemerkt, daß 
dieser Vertrag bei verschiedenen Mächten Anstoß erregt habe und sowohl der 
niederländische Gesandte wie auch der französische Botschafter in London 
ihrer Mißstimmung über denselben Ausdruck gegeben hatten. Herr Wadding- 
ton betrachtete den Vertrag „als eine von englischer und von portugiesischer Seite 
betriebene Schädigung internationaler Interessen“. Unter dem 3. März ging 
ein Bericht des kaiserlichen Konsuls in San Paolo de Loanda im aus- 
wärtigen Amt ein, der die Gefahren auseinandersetzt, welche dem deutschen 
Handel drohten, der schon eine große Entwickelung nach dem Kongogebiet 
hatte. Es wird angeführt, daß bei der Handelspolitik Portugals nicht be- 
zweifelt werden könne, daß Differentialzölle zu Gunsten der portugiesischen 
Erzeugnisse und Schiffahrt nicht lange auf sich warten lassen würden. Die 
Furcht vor solchen Zuständen würde genügen, alles kommerzielle Leben und 
allen Unternehmungsgeist in jenen Gebieten zu ersticken. 
Es folgen dann Eingaben der Handelskammern von Hamburg, 
Solingen, Bremen und Mannheim, welche die Interessen des deutschen 
Handels im Kongogebiet darlegen und um Erhaltung der bisherigen Zu- 
stände am Kongo bitten. Der Eingabe der Solinger Handelskammer haben 
sich angeschlossen die Handelskammern zu Chemnitz, Plauen, Limburg a. d. L., 
Pforzheim, Hannover, Nürnberg, Altena, Elberfeld, Dortmund, Stolberg, 
München, Offenbach, Wesel, Köln a. Rh., Hamburg, Frankfurt a. M., 
Wiesbaden, Iserlohn, Hagen und Hof 
Am 11. April erging ein Erlaß des Grafen Hatzfeldt, in welchem 
der deutsche Gesandte in Lissabon angewiesen wird, dem portugiesischen 
Minister des Auswärtigen mitzuteilen, daß „die deutsche Regierung nicht in 
der Lage sei, den portugiesisch-englischen Vertrag vom 26. Februar 1884 als 
für das Reich und seine Angehörigen verbindlich anzusehen." 
In einem Erlaß an den deutschen Botschafter in Paris vom 17. April 
wird es als wünschenswert bezeichnet, „gegenüber der durch den Kongo- 
Vertrag geschaffenen Lage das Prinzip der Solidarität und Gleichberechtigung
	        
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