22 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 11.—14.)
Heeresstärke festzustellen ohne Rücksicht auf den Kaiser und auf sein Recht,
welches auf Art. 5 der Verfassung beruht, und demzufolge er befugt ist, in
Sachen der Militärgesetze jederzeit an denselben Einrichtungen, wie sie bisher
bestehen, festzuhalten. Bei Gesetzesvorschlägen über das Militärwesen, die
Kriegsmarine und die im Art. 35 bezeichneten Angelegenheiten gibt die
Stimme des Präsidiums des Bundesrates bei Meinungsverschiedenheiten
desselben den Ausschlag, wenn sie sich für Aufrechterhaltung der bestehenden
Einrichtungen ausspricht. Die bestehende Einrichtung ist doch immer die
Präsenzziffer des vorigen Jahres und würde infolge des ausschlaggebenden
Votums des Kaisers immer in Geltung bleiben, selbst wenn, was nicht denk-
bar ist, die Majorität des Bundesrats dagegen stimmte. Die verbündeten
Regierungen werden aber vollkommen einstimmig sein, und ein solches Gesetz
wird nie und in keinem Jahre zu stande kommen, welches uns eine unzu-
längliche Armee durch das Budget oktroyieren wollte. Ich weiß nicht, warum
Sie ein Bedürfnis haben, diese Krisen, die sich daran knüpfen, häufiger
hervorzurufen, als sie nach dem Kompromiß alle 7 Jahre stattfinden. Wir
haben dieses Bedürfnis nicht; wir wünschen keine Krisen und keine Kon-
flikte; wir wünschen an dem Kompromiß festzuhalten, das da ist. Über
dieses hinaus werden wir uns aber nicht treiben lassen. Wir halten un-
bedingt an dem vollen Septennat fest und an der ganzen Vorlage, wie wir
sie gemacht haben, und weichen keinen Nagel breit davon ab. (Bravol!
rechts.) Das deutsche Heer ist eine Einrichtung, die von den wechselnden
Majoritäten des Reichstags nicht abhängig sein kann. Wer bürgt uns denn
dafür, daß eine Majorität, die sich auf so heterogene Weise zusammensetzt
wie die jetzige, eine dauernde sein werde? Daß die Fixierung der Präsenz-
stärke von der jedesmaligen Konstellation und Stimmung des Reichstags ab-
hängen sollte, das ist eine absolute Unmöglichkeit. Streben Sie doch nicht
nach solchen Fantasiegebilden, meine Herren! (Bravol rechts.) Ohne unser
deutsches Heer, eine der fundamentalsten Haupteinrichtungen und Grundlagen,
ohne das Bedürfnis der gemeinsamen Verteidigung gegen auswärtige An-
griffe, wäre der ganze Bund, auf dem das deutsche Reich beruht, gar nicht
zu stande gekommen. Vergegenwärtigen Sie sich das immer, wenn Sie diese
Hauptbedingung seiner Existenz ihm unter den Füßen wegziehen und es ge-
fährden; denn geschützt sein wollen wir alle, auch Ihre Wähler, — rechnen
Sie darauf!
Der Versuch, der mit diesen Anträgen gemacht worden ist, den Stand
des Heeres von den wechselnden Majoritäten und den Beschlüssen des Parla-
ments abhängig zu machen, also — mit anderen Worten — aus dem Kaiser-
lichen Heer, das wir bisher in Deutschland haben, ein Parlamentsheer zu
machen, ein Heer, für dessen Bestand nicht Seine Majestät der Kaiser und
die verbündeten Regierungen, sondern die Herren Windthorst und Richter
zu sorgen haben, wird nicht gelingen. Mit anderen Worten: dieses Streben,
wenn Sie es haben, liegt ganz außerhalb aller Möglichkeit, und die That-
sache, die bei diesen Verhandlungen zur Kenntnis gekommen, daß es bei uns
Leute gibt, die darnach streben, die das für möglich halten, verpflichtet uns
allein schon, über diese Frage an das Volk, an die Wähler zu appellieren,
ob das wirklich die Meinung der Wähler ist. — (Bravo! rechts. Aha!
links.) — Ja, meine Herren, „aha!“ haben Sie denn daran gezweifelt — das
wäre ja vollkommen wunderlich —, (Heiterkeit), daß wir an die Wähler
appellieren werden, um zu erfahren, ob es wirklich der Wille der Wähler
ist, daß die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands von der jedesmaligen Ab-
stimmung des Parlaments in jedem Jahre abhängt, daß die Hälfte der Armee
entlassen werden kann, daß die Armee reduziert werden kann auf den ein-
jährigen Dienst, auf das, was die Sozialdemokraten noch bewilligen? Es ist