Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 11. - 14.) 29
alles acceptierten, was der Reichskanzler will. Das ist ja eine Übertreibung,
die ich von dem Herrn in seinen Jahren doch kaum noch vermutet hätte.
Übertreibungen lassen sich bei jugendlichen Leuten rechtfertigen, aber so alt,
wie wir beide sind, sollten wir uns doch mit dergleichen verschonen. Es
kommt uns nur darauf an, Leute gewählt zu sehen, die mit demselben Pa-
triotismus, mit derselben Zurückstellung der Parteifragen gegenüber der
Frage des Patriotismus für unsere Wehrhaftigkeit stimmen, wie das in allen
anderen Ländern, mit alleiniger Ausnahme von Deutschland, der Fall ist,
soweit parlamentarische Einrichtungen bestehen. (Oh! oh! links. Bravo!
rechts.) Die Nörgelei des Parlaments gegenüber Forderungen der Regierung,
die der Sicherheit des Landes gelten, ist nur eine echt deutsche Eigentümlich-
keit; ich weiß nicht, ob ich ihr verfallen würde, wenn ich Abgeordneter
wäre; ich glaube nicht. Meine Herren, Sie sind damit auf einen falschen
Strang geraten; überhaupt, ich rate Ihnen: bremsen Sie so früh wie mög-
lich. Die politischen Wege sind nicht so, wie wenn man sich auf freiem
Felde zu Fuß begegnet. Da ist das Ausweichen unter Umständen nicht
mehr möglich, und namentlich nicht mehr möglich, wo es sich um unsere
Sicherheit handelt.
Der Herr Abgeordnete hätte gewünscht, daß die deutsche Politik ganz
und voll mit Österreich ginge; er hat das nachher nach der Richtung noch
erläutert, daß wir uns um die orientalische Frage mehr interessieren sollten,
als wir bisher gethan haben. Meine Herren, unsere Beziehungen zu Öster-
reich beruhen auf dem Bewußtsein eines jeden von uns, daß die volle groß-
mächtliche Existenz des anderen eine Notwendigkeit für den einen ist, im In-
teresse des europäischen Gleichgewichts; aber sie beruhen nicht auf der Grund-
lage, wie man es im ungarischen Parlament unter Umständen ausgelegt hat,
daß eine von beiden Nationen sich und ihre ganze Macht und Politik voll-
ständig in den Dienst der anderen stellen kann. Das ist ganz unmöglich.
Es gibt spezifisch österreichische Interessen, für die wir uns nicht einsetzen
können; es gibt spezifisch deutsche Interessen, für die Österreich sich nicht
einsetzen kann. Österreich hat das Interesse, daß Deutschland als große, volle
und starke Macht erhalten bleibt; Deutschland hat dasselbe Interesse in
Bezug auf Österreich; aber wir können uns nicht unsere Sonderinteressen
gegenseitig aneignen. Wir haben von Österreich niemals verlangt und haben
auch keinen Anspruch darauf, daß es sich in unsere Händel mit Frankreich
mische. Wenn wir Schwierigkeiten haben mit England in Kolonialfragen
oder wenn wir mit Spanien über Lumpereien wie die Karolinen in Händel
kommen, haben wir nie an Österreich einen Anspruch gemacht auf Grund
unseres freundschaftlichen Verhältnisses. Soweit es sich um unsere beider-
seitige Existenz als volle, freie und mächtige Großstaaten handelt, soweit
vertreten wir gegenseitige Interessen. Aber was Österreich in Konstantinopel
für Interessen hat, das wird Österreich allein zu beurteilen haben; wir
haben dort keine, — ich wiederhole das. Wenn der Herr Abgeordnete Windt-
horst einmal mein Nachfolger sein wird, dann wird er ja entscheiden können,
daß wir in Konstantinopel Interessen haben, die uns unter Umständen einen
so schweren Krieg wie den mit unserem zweihundertmeiligen Grenznachbar,
Rußland, ertragen lassen können; wir hätten nachher doch dafür die Genug-
thuung, daß am Bosporus das Regime herrschte, das wir gewollt und ge-
wünscht haben; dafür können wir schon ein paar hunderttausend Menschen
und ein paar Milliarden opfern! Denn, glauben Sie doch nicht, daß, wenn
man solche Politik einmal falsch instradiert, man auf jeder Station umkehren
kann; das ist nicht möglich. Wenn wir einmal das gegenseitige Mißtrauen
erwecken, dann geht es auch, wenn keiner von beiden sich blamieren will, un-
aufhaltsam vorwärts. Die Politik zweier Großstaaten nebeneinander kann