30 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 11.—14.)
man vergleichen mit der Lage zweier Reisenden, die einander nicht kennen,
in einem wüsten Walde, von denen keiner dem anderen vollständig traut;
wenn der eine die Hand in die Tasche steckt, dann spannt der andere schon
seinen Revolver, und wenn er den Hahn des ersten knacken hört, feuert er
schon. So ist es bei Mächten von denen jede Einfluß auf die Entscheidungen
der anderen hat; da muß man das erste Mißtrauen und die erste Verstim-
mung der anderen sehr sorgfältig vermeiden, wenn man die Freundschaft
bewahren will. Das alles wird der Herr Vorredner besser wissen als ich,
wie ich überhaupt bedaure, daß er den Platz, den ich einnehme, nicht ein-
nimmt; aber ich kann gegen den Willen des Kaisers nicht aufkommen.
Der Herr Abgeordnete hat ferner gesagt, was wir denn zu befürchten
hätten, wenn Rußland unser Verbündeter sei. Ich weiß nicht, woher er
weiß, daß Rußland unser Verbündeter ist. Wenn er geheime Nachrichten
aus Petersburg hat daß Rußland mit uns ein Bündnis gegen Frankreich
abschließen will, so würde ich ihm dankbar sein, wenn er mir das mitteilen
wollte; das wäre patriotischer, als hier in die Offentlichkeit solche Nach-
richten zu lanzieren, die ich für irrtümlich halte. Ich habe gestern noch die
Ehre gehabt, mit dem russischen Botschafter zu Mittag zu essen; mir hat
er nichts davon gesagt, daß er ein Bündnis vorschlüge. Ich habe mein Ver-
trauen dazu ausgesprochen, daß Rußland uns nicht angreife und nicht kon-
spiriere mit anderen Mächten, daß es kein Bündnis gegen uns suche. Wir
haben aber auf kein Bündnis zu rechnen, wenn wir mit Frankreich kämpfen.
Das ist also eine irrtümliche Nachricht, zu deren zeitiger Widerrufung ich
durchaus genötigt bin.
Der Herr Abgeordnete hat ferner gesagt, das Verhältnis zu Frank-
reich sei 1881 schon dasselbe gewesen. Nun, meine Herren, das will ich
politisch nicht bestreiten — wir haben immer friedliche Ministerien gehabt
—, aber militärisch ist die Sache doch ganz anders. Die französische Armee
war 1881 nicht so schlagfertig und nicht so stark wie heute; sie war es noch
weniger 1874. Wir sind auch nicht die Leute, die gleich auf den ersten Ein-
druck, daß die Franzosen ein paar Bataillone mehr einziehen, nun an den
Reichstag gehen und sagen: der bedroht uns, wir verlangen mehr, — son-
dern wir warten unsere Zeit ab. Wir haben in den letzten 16 Jahren —
1875 entstand ein ganz falscher Kriegslärm, das Ergebnis einer künstlich
aufgebauschten Intrigue — nie die Aksicht gehabt, Frankreich anzugreifen,
in den ganzen 16 Jahren auch nicht einen Augenblick; es ist eine elende
Lüge gewesen, bei der fremde Intriguanten thätig waren, daß wir jemals
die Absicht gehabt hätten. Aber die französische Armee ist doch seit der Zeit
eine ganz andere geworden. Das ist wieder eine Frage, in der es darauf
ankommt, zu entscheiden, ob in dem Urteil über die Leistungsfähigkeit der
französischen Armee der Graf Moltke oder Herr Windthorst der kompetentere
sei, und eine Widerlegung des Einleitungssatzes des Abgeordneten Windt-
horst, daß er sich mit dem Grafen Moltke nicht in Parallele stellen wolle.
Herr Windthorst hat an einer anderen Stelle gesagt und wiederholt, er
glaube, daß wir Frankreich nicht nur gewachsen, sondern auch überlegen
seien. Ich wiederhole, der Herr Abgeordnete wird doch nicht in die Rolle
eines miles gloriosus verfallen wollen und mit dem sicheren Siege über
Frankreich hier in diesen Räumen prahlen. Wenn so gewiegte Strategen,
wie in den Regierungskreisen vorhanden sind, dem widersprechen und sagen:
es ist nicht unzweifelhaft, — dann würde ich doch an Stelle des Abgeord-
neten, falls er wirklich glaubt, daß der Graf Moltke diese militärischen
Sachen besser versteht, auf dies Thema nicht mehr zurückkommen. Also daß
das Verhältnis zu Frankreich militärisch nicht mehr dasselbe ist, das über-
lasse ich unseren militärischen Autoritäten zu beweisen. Den Angriff Frank-