Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dritter Jahrgang. 1887. (28)

454 Die Tũrkei. (Mai Ende — Juli Mitte.) 
Der Brüsseler „Nord" nennt die Konvention einen schlechten Witz, 
dieselbe gebe den Ansprüchen Englands in deren ganzem Umfange die Weihe, 
indem sie dieselben mit einem Schleier verhülle, welcher nicht dichter als 
jener einer Odaliske sei. Die Suzeränetät der Pforte bestünde, würde das 
Abkommen von den Mächten angenommen, nur mehr dem Namen nach; 
England wäre dann der wahre Souverän Aegyptens und in gegebener Zeit 
würde Europa aus Aegypten verdrängt sein. Frankreich würde durch seine 
Zustimmung seine gänzliche Abdankung unterzeichnen, und was Rußland 
anbelange, so könne die russische Regierung dem Abkommen nicht zustimmen. 
Möglicherweise hätten sich die türkischen Staatsmänner nur in der Hoffnung 
auf eine wahrscheinliche Ablehnung von Seite Europas England gegenüber 
engagiert. 
Ende Mai—Juni. (Kreta.) Auf Vorschlag des Großvezirs 
erteilt der Statthalter den Kretern den Rat, einen Ausschuß aus 
der Nationalversammlung zu bilden, der sich nach Konstantinopel 
begeben soll um die Forderungen der Kreter direkt der Pforte zu 
unterbreiten. Der Vorschlag wird angenommen. 
Anfang Juni treffen eine mohamedanische und eine christliche 
Deputation in Konstantinopel ein. Die erstere hat den Auftrag, die 
Forderungen der Christen zu bekämpfen. Diese find die folgenden: 
Zwei Drittel von den Einnahmen der Insel und die ganzen indirekten 
Steuern sollen dem Budget Kretas zugeführt und die Steuereinhebung den 
Inselbehörden überlassen werden. Die Pforte soll verhalten sein, alle Be- 
schlüsse der kretensischen National-Versammlung innerhalb der Frist von drei 
Monaten zu sanktionieren. Die Vertretung der christlichen Bevölkerung soll 
in der National-Versammlung nicht die absolute Majorität, sondern zwei 
Drittel bilden, und die Verleihung der Aemter dem Verhältnisse der christ- 
lichen zur mohamedanischen Bevölkerung entsprechen; die Beamten selbst sollen 
durch die National-Versammlung gewählt werden. 
Nachdem in einer Besprechung mit dem Großvezir die Christen 
bemerkt haben, die christliche Bevölkerung der Insel werde keine 
Steuern zahlen, wenn ihre Wünsche unerfüllt blieben, eröffnet ihnen 
derselbe, daß er sich nicht in irgend welche Verhandlungen einlassen 
könne, ehe nicht die Volksvertreter der Bevölkerung den Rat gegeben 
haben würden, ihre Steuern pflichtgemäß zu zahlen. Es sei unter 
der Würde der Pforte irgend einem Drucke zu weichen. 
14. Juni. (Bulgarien.) Riza Bey erklärt der bulgarischen 
Regierung, die Pforte betrachte die Einberufung der großen 
Sobranje zur Zeit als ungünstig, da deren Zusammentritt in 
Europa beunruhigende Deutungen widerfahren müßte. 
Mitte Juni—Mitte Juli. (A gypten.) Rußland und Frank- 
reich erklären sich nach dem Bekanntwerden der englisch-türkischen 
Konvention über Agypten gegen dieselbe. Infolge dessen fordert 
die Türkei eine Anderung dahin, daß nach dem Rückzuge der Eng-
	        
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