Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dritter Jahrgang. 1887. (28)

490 Serbien. (Juni 15. —Juli 1.) 
Serbien aber könne sich der Einsicht nicht verschließen, daß gute Beziehungen 
zum Nachbarstaate unbedingt notwendig seien. Nur äußerlich seien die Be- 
ziehungen zwischen beiden Staaten unter dem vorigen Kabinett herzliche ge- 
wesen, der Haß gegen dieses habe die Gereiztheit gegen Oesterreich gesteigert; 
nur das neue Kabinett könne diesen Zustand mildern und mit diesem breche 
auch die Morgenröte der politischen Zukunft an; die äußere Politik, der 
finanzielle Verfall, der ökonomische Niedergang und Stillstand des Handels, 
die Korruption der Administration, der vernachlässigte Unterricht, die durch 
Feilheit entwürdigte Justizpflege, die Vernachlässigung der Amtspflichten 
erheischen eine gründliche Kur, und die radikale Volkspartei werde diesbezüg- 
lich die Regierung nach Kräften unterstützen. 
Ein auf Ristitsch selbst zurückgeführter Artikel der „Nova Ustavnost" 
sagt, das Programm des neuen Kabinetts enthalte sicher nichts für Oester- 
reich-Ungarn Beunruhigendes. Auch früher habe Ristitsch ein möglichst gutes 
Verhältnis zu dem Nachbarstaate für seine Aufgabe als Ministerpräsident 
angesehen. Seine Bestrebungen nach freundlichen Beziehungen zu Rußland 
schlössen das nicht aus. Ja als er 1880 den Eisenbahnvertrag mit Oester- 
reich geschlossen, sei von der Gegenpartei ihm der Vorwurf der Preisgebung 
Serbiens an Oesterreich gemacht worden. Es könne Oesterreich-Ungarn richts 
nützen, sich auf eine unpopuläre Regierung in Serbien zu stützen. Beide 
Staaten hätten so viel gemeinsame Interessen, daß ein Zweifel an Ristitschs 
gutem Willen zur Erhaltung der herzlichen Beziehungen einen Zweifel an 
seinem bons sens gleichkäme. 
In Oesterreich begegnet man dem neuen Ministerium allgemein 
mit unverhohlenem Mißtrauen. Die „Norddeutsche Allg. Ztg." dagegen 
sagt: das Programm desselben, welches Aufrechthaltung der besten Beziehun- 
gen mit allen fremden Staaten und Sparsamkeit in den wirtschaftlichen 
Angelegenheiten als Richtschnur aufstellt, könne allseitig nur beifälliger Auf- 
nahme versichert sein, da dasselbe durchwegs Punkte anführe, welche der 
Ruhe in den Orientstaaten weitere Bürgschaften zu gewähren versprechen. — 
Die russischen Zeitungen feiern den Ministerwechsel durchweg als einen 
großen und entscheidenden Sieg Rußlands. 
15. Juni. Durch königlichen Ukas wird die Auflösung der 
Skuptschina für die laufende Jahresperiode verfügt. 
20. Juni. Der bulgarische Justizminister Stoilow 
macht auf der Rückreise von Wien (vgl. Oesterreich Anf. April) 
Ristitsch einen längern Besuch. 
Ristitsch erklärt hiebei, er werde die wiederhergestellten freundschaft- 
lichen Beziehungen zu Bulgarien strikte erhalten und pflegen, und fügte 
hinzu, daß wenn die Wiederherstellung der guten Beziehungen nicht bereits 
erfolgt wäre, er selbst die Initiative hie ergriffen hätte. 
24. Juni. Reise des Königs Milan nach Wien (s. Oester- 
reich-Ungarn Ende Juni—Anf. Juli). 
1. Juli. Ministerpräsident Ristitsch erläßt ein Rundschrei- 
ben an die Vertreter Serbiens im Auslande über die Auf- 
gabe des Kabinetts. 
In demselben erklärt er für den Grund des Regierungswechsels ledig- 
lich die Frage der inneren Verhältnisse. Das Zirkulär zählt die bekannten 
fünf Programmpunkte der neuen Regierung auf und sagt, Serbien dürfe 
nicht gestatten, daß das Ausland auch nur einen Moment an seinem auf- 
 
	        
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