Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember Anf. —4.) 145
Anfang Dezember. Rechtsanwalt Harmening in Jena wird
wegen Beleidigung des Herzogs zu Koburg-Gotha zu 6 Monaten
Festung verurteilt.
Harmening hatte eine in der Presse dem Herzog zugeschriebene Bro-
schüre „Auch ein Programm aus den 99 Tagen“, die schwerwiegende Be-
schuldigungen gegen die deutschfreisinnige Partei enthielt, einer scharfen Kritik
unterzogen.
Anfang Dezember. (Erneuerung des Wahblkartells
von 1887.) Die Organe der drei Kartellparteien bringen folgende
Bekanntmachung:
„Die Vorstände der Reichs= und freikonservativen, der deutschkonser-
vativen und der nationalliberalen Partei haben das Wahlkartell von 1887
für die bevorstehende Reichstagswahl in folgender Weise erneuert. Es wird
empfohlen:
I. 1. Bei der Aufstellung von Kandidaten den Besitzstand der Par-
teien aufrecht zu erhalten; 2. in den bisher von Mitgliedern sonstiger Par-
teien vertretenen Wahlkreisen sich über einen gemeinsamen Kandidaten zu
verständigen; 3. falls dennoch eine Einigung im Wahlkreise nicht gelingt,
sich an den Zentralvorstand der eigenen Partei in Berlin zu wenden. Dieser
wird mit den hierzu bestellten Vertretern der Zentralvorstände der anderen
Kartellparteien die Einigung herbeizuführen versuchen. II. Sollten gleich-
wohl im ersten Wahlgange Kandidaten der Kartellparteien einander gegen-
über stehen und einer derselben mit einem Kandidaten der sonstigen Parteien
in die Stichwahl kommen, so wird einmütiges Eintreten für den ersteren
bestimmt erwartet. III. Die Parteivorstände werden dahin wirken, daß in
Aufrufen und Ansprachen, sowie in der befreundeten Presse alles vermieden
wird, was das geschlossene Zusammengehen der drei Parteien in der Wahl-
kampagne gefährden könnte."
1. Dezember. (Bergarbeiterbewegung.) Infolge zahl-
reicher Maßregelungen von Bergarbeitern durch die Zechen findet
in Essen eine von ca. 3000 Personen besuchte Versammlung statt,
die den Streik für den nächsten Tag beschließen will, dann aber
durch die Führer besänftigt, eine Kommission von 7 Bergleuten
wählt mit dem Auftrag, mit den Zechenverwaltungen während der
kommenden Woche in Verhandlung zu treten.
Die Beschwerde lautete: daß Bergleute, welche Delegierte der Berg-
arbeiter sind oder sonst in der Oeffentlichkeit die Interessen ihrer Kameraden
vertreten, Entbehrungen zu gewärtigen haben, und daß außerdem die Zechen-
verwaltungen sich verpflichtet haben, keinen Bergmann zur Arbeit anzuneh-
men, der auf einer anderen Zeche entlassen oder bei derselben seine Entlassung
genommen hat.
4. Dezember. (Der Stettiner Zweigverein der Pom-
merschen ökonomischen Gesellschaft), der im November den
Beschluß gefaßt hatte, zur Abstellung des drückenden Arbeiter-
mangels in seinem Distrikte ev. chinesische Feldarbeiter importieren
zu lassen, erklärt auf diesbezügliches Ansuchen des Hauptdirektoriums,
Europ. Geschichtskalender. XXX Bd. 10