Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfter Jahrgang. 1889. (30)

356 Mebersicht der pelitisczen Entwichelnns des Jahres 1889. 
sogar herauslesen, daß die Schweizer Regierung direkt verpflichtet 
sei, von den deutschen Reichsangehörigen auf ihrem Gebiet Leu- 
mundsgeugnisse der Heimatsbehörde zu fordern (S. 97). Als der 
Schweizer Bundesrat diese Interpretation nicht anerkennen wollte, 
wurde der Niederlassungvertrag gekündigt (20. Juli). 
In der nächsten Session des deutschen Reichstages im Herbst 
nahm der Staatssekretär des Auswärtigen Gelegenheit, die Be- 
ziehungen Deutschlands zur Schweiz in sehr wohlwollendem Ton 
zu besprechen (26. Novbr.) und in den Zeitungen waren schon im 
Herbst Andeutungen erschienen, daß das scharfe Vorgehen vielleicht 
durch einen sehr ferne liegenden Grund beeinflußt worden sei, näm- 
lich dem Kaiser von Rußland an einem Beispiel vor die Augen zu 
führen, daß das Interesse der großen Monarchien, gegen die anar- 
chistischen Bestrebungen zusammenzuhalten, noch heute so stark sei, 
wie je. Da die Empfindung dieser Interessen-Gemeinschaft viel- 
leicht das stärkste aller Momente der Friedenswahrung zwischen 
Rußland und Deutschland ist, so hätte also jene an sich so unbe- 
deutende Angelegenheit in der großen europäischen Politik eine nicht 
unwesentliche Rolle gespielt. 
Inneres. Aus dem Jahre 1888 wurde noch übernommen der tragi- 
komische Prozeß Geffcken, dem das Reichsgericht glücklicherweise 
energisch ein Ende machte, indem es (5. Jan.) den Angeklagten 
außer Verfolgung setzte (uvgl. 17. Jan., 6. Febr.). 
Die „Volkszeitung“ brachte zum Todestage Kaiser Wilhelms, 
9. März, und zur Feier des Revolutionstages, 18. März, zwei 
überaus rohe und aufreizende Artikel. Der Versuch, sie deshalb 
unter das Sozialistengesetz zu bringen und zu unterdrücken, erregte 
als dem Geiste dieses Gesetzes widersprechend, Aufsehen und Unruhe 
und mißlang (21. März; 10. April). 
Rätselhafte offiziöse Artikel über die „Nachfolge Bismarcks“ 
erregten Unruhe und Verstimmung nach allen Seiten. (Anf. Febr. 
S. 27.) Schien die Spitze dieser Artikel gegen die Nationallibe- 
ralen gerichtet, so wurde der rechte Flügel des Kartells in noch 
viel schärferer Weise reprimiert. Da ein „Kartell“ naturgemäß 
die Politik auf einer gewissen Mittellinie fortführen muß, so suchte 
die „Kreuz-Zeitung“ und die spezifisch Stöcker'sche Richtung mehr-
	        
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