Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfter Jahrgang. 1889. (30)

358 Mebersicht der politischen Eutwinelung des Jahres 1889. 
berufen“. (S. 124.) Eine große konservative Versammlung in 
Berlin unter Führung des Prof. Ad. Wagner nahm eine Reso- 
lution an, welche unter dem Schein einer Zustimmung zu dem 
Kartell die praktische Durchührung unmöglich machen mußte 
(S. 128), wenn die konservative Parteileitung sich auf diesen Boden 
stellte. 
Einen schweren Schlag empfing nach Ansicht der Liberalen 
die konservative Bewegung dadurch, daß Hofprediger Stöcker (im 
April) veranlaßt wurde, sich von der politischen Agitation zurück- 
zuziehen. Man hatte ihm die Wahl gestellt, entweder sein Amt 
niederzulegen oder diese Agitation zu unterlassen. Allgemein wurde 
das so aufgefaßt, daß die Störung in der Ausbildung des Kartell- 
Gedankens, welche die Stöcker'sche Bewegung notwendig hervorrufen 
mußte, dadurch beseitigt werden solle. Während aber die Gegner 
Stöckers darüber höhnten und frohlockten, daß er die „Krippe“ des 
Amts dem Drange seiner Ueberzeugung aufgeopfert, wollten Andere 
meinen, daß in Wahrheit Stöcker durch seine kluge augenblickliche 
Nachgiebigkeit den Sieg über den Reichskanzler erfochten. Er sei 
Hofprediger geblieben und nichts hindere ihn, sobald, spätestens 
nach Ableben des Kanzlers, die Situation eine andere geworden, 
auch wieder mit dem ganzen Gewicht seiner Stellung seine poli- 
tische Thätigkeit aufzunehmen. (Vgl. S. 53.) 
Unter den Führern der Parteien im Parlament wurde für 
die bevorstehenden Reichstagswahlen das Kartell endlich erneuert 
(3. Dezember); im einzelnen erregte die praktische Durchführung 
naturgemäß mannigfachen Streit. 
In bemerkenswerter Weise komplizierte sich der innere Par- 
teistreit mit der auswärtigen Politik durch die Hineinziehung des 
Chefs des großen Generalstabes, des Grafen Waldersee. Ein Ar- 
tikel in den „Hamburger Nachrichten“ (19. Juni) insinuierte, daß 
eine Militärpartei existiere, die geleitet von der Auffassung, daß 
der Krieg unvermeidlich sei und daß die Verhältnisse sich für 
Deutschland nicht verbesserten, sondern verschlechterten, zu baldigem 
Losbruch treibe und sich in Widerspruch mit der von dem Reichs- 
kanzler geleiteten Staatspolitik setze. Die „Kreuz-Zeitung“ sei das 
Organ dieser Bestrebungen. Bald brachte die „Nordd. Allg. Ztg."
	        
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