Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfter Jahrgang. 1889. (30)

28 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 1. Hälfte.) 
solange er nicht tet umsinkt, — daß einen solchen Mann die Schicksals- 
schläge und Kämpfe des vorigen Jahres schwerer getroffen haben, als irgend 
einen anderen Staatsdiener. Aber trotzdem würde derjenige eine falsche 
Spekulation machen, der sich der Erwartung überließe, daß die Natur nun 
baldigst vollbringen werde, was alle Intriguen und Kabalen bisher zum 
Glück immer nicht vermocht haben. Das Leben des Kanzlers steht, wie das 
aller Menschen, in Gottes Hand; es kann heute wie morgen, in zehn Jahren, 
in noch längerer Zeit enden; nichts hingegen gibt ein Recht zu der Behaup- 
tung, daß das Befinden des leitenden Staatsmannes sich neuerdings in einer 
Weise verschlechtert habe, welche durch die Zunahme der Jahre allein nicht 
zu erklären wäre. Wenn von Einem, so gilt vom Fürsten Bismarck das 
Wort des Livius: corpore senex esse poterit, animo nunquam erit. Was 
aber die Ermattung betrifft, welche sich beim Kanzler während dessen letzter 
Reichstagsrede so sehr bemerkbar gemacht und zu den bezeichneten Befürch- 
tungen Anlaß gegeben haben soll, so ist diese lediglich darauf zurückzuführen, 
daß sich der Kanzler durch den Verlauf der langandauernden Sitzung ver- 
hindert sah, diejenigen Rücksichten auf seine körperliche Stärkungsbedürftig- 
keit zu nehmen, welche ihm ärztlicherseits vorgeschrieben sind. Der Kanzler 
befand sich, als er seine Rede begann, in einem Zustande, der jeden mehr 
an sich als an das öffentliche Interesse denkenden Staatsmann seines Alters 
wahrscheinlich veranlaßt hätte, sofort nach Hause zu fahren und seine Rede 
auf die folgende Sitzung zu verschieben. Hier wäre vielleicht der Ort, auf 
gewisse Unzuträglichkeiten einzugehen, welche im deutschen Reichstage durch 
übermäßige Rücksichtnahme auf die Minoritätsredner entstehen, deren Par- 
teien dadurch überdies eine ihnen in der That gar nicht zukommende, poli- 
tisch nachteilige Bedeutung erhalten; indes würde dies zu weit führen.“ 
„Wir greifen nach diesem Exkurs ins Persönliche auf die gehegten 
Befürchtungen, von denen wir ausgingen, zurück: daß nach einem plötzlichen 
Scheiden des Fürsten Bismarck aus seinem hohen Amte die von ihm mit 
seiner mächtigen Persönlichkeit gestützte Politik in sich selbst zusammenbrechen 
könne. Eine solche Vermutung beruht auf einer so geringschätzigen Meinung 
von dem Lebenswerke des Fürsten Bismarck, daß wir im Ernst nicht glauben 
können und dürfen, dieselbe sei in nationalliberalen Kreisen wirklich verbreitet. 
Was auch an rein persönlichen Momenten nach dem Hinscheiden des großen 
Staatsmannes in Wegfall geraten möge, — daß seine Politik als solche 
unter Kaiser Wilhelm II. eine durchgreifende Aenderung erfahren werde, 
glaubt kein einziger aller berufenen Urteiler. Charakteristisch für die Auf- 
fassung, welche die nach einem plötzlichen Hinscheiden des Kanzlers ein- 
tretende Situation in maßgebenden Kreisen findet, ist der wohlverbürgte, 
mit Rücksicht auf eine solche Eventualität gethane Ausspruch, daß die nächste, 
nach einem solchen Wandel vorzunehmende Wahl erst recht auf den Namen 
Bismarck erfolgen würde, daß der tote Kanzler eine noch größere Herrschaft 
über das deutsche Volk ausüben werde, als der lebendige es je gethan habe. 
Der Kaiser aber: Nun, von welcher Gesinnung dieser gegen den Staats- 
mann erfüllt ist, dem sein Haus wie sein Land so Großes verdankt, ist no- 
torisch; ebenso bekannt ist, welche Interpretation das Wort des Reichskanz- 
lers: der Kaiser werde dereinst sein eigener Kanzler sein, nachträglich durch 
die Thatsachen erfahren hat: der Kaiser konferirt und arbeitet alltäglich, oft 
mehrmals, mit dem Kanzler; er läßt sich von ihm die eingehendsten Vor- 
träge über alle politifchen und sonstigen Aufgaben, Beziehungen u. s. w. 
des Reiches und Preußens halten, so daß niemand besser als er in der Lage 
ist, die Absichten des großen Staatsmannes zu verstehen und ihnen die Aus- 
führung auch für den Fall zu sichern, daß der Kanzler — was Gott ver- 
hüten möge! — von uns schiede, bevor er seine Mission ganz vollendet hätte!“
	        
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