Aebersicht der politischen Eutwichelung des Jahres 1889. 385
Worten verhalten sich in Italien Papsttum und Königtum, Kirche
und Staat doch praktisch und thatsächlich so vorsichtig und reser-
viert gegen einander, daß es zu aktuellen Konflikten nicht kommt.
Der König und die Minister erklären bei feierlichen Gelegenheiten
und in Gesetzen immer von neuem die Unantastbarkeit des National-
staates; der Papst und die Katholikenversammlungen der ganzen
Welt protestieren immer von neuem gegen den ruchlosen Kirchen-
raub des Patrimoniums Petri — aber der Staat ist im Besitz und
die Kirche will die Offensive nicht wagen. Ende des Jahres wurde
ein Gesetz angenommen, welches abermals der Kirche ein wesent-
liches materielles Machtmittel entwand. Die zahllosen Stiftungen
und Wohlthätigkeitsanstalten, die sich unter der Verwaltung der
Kirchenbehörden befinden und natürlich nicht wenig dazu dienten,
ihren Einfluß auf breite Volksschichten zu verstärken, wurden unter
die Kontrolle des Staates gestellt.
Das eigentliche Kreuz der italienischen Politik sind die Finanzen.
Seine Großmachtstellung in Europa, seine volle Gleichberechtigung
in der Tripelallianz zu bewahren, bedarf Italien einer starken
Armee und starken Marine. Dem Triebe jedes großen Volkes nach
Thätigkeit entsprechend hat Italien auch an der ostafrikanischen Küste
eine Kolonialpolitik von großem Wurf in Angriff genommen.
Beides aber kostet Geld, viel Geld und das Jahrhunderte lang von
fremden, unfähigen, zersplitterten Regierungen verlotterte Wirt-
schaftsleben des Volkes erholt sich erst langsam und lernt erst nach
und nach den vorangeschrittenen Nationen die Grundsätze und Kunst-
griffe des modernen Verkehrs und der modernen Technik ab und
sammelt tropfenweise das nötige Kapital. Dabei find die Schul-
den, die die Freiheits= und Einheitskämpfe selber nötig gemacht
haben, zu verzinsen. Trotzdem würde das italienische Volk jeden
Staatsmann steinigen, der ihm raten wollte, sich mit der Stellung
einer Macht zweiten Ranges zu begnügen, bis es wohlhabender
geworden sei. Tritt nun aber der Finanzminister vor die Kammer
und verlangt zur Deckung der eben beschlossenen Ausgaben die
nötigen neuen Steuern, so macht es die italienische Volksvertretung,
wie anderwärts die öffentliche Meinung auch: sie will das Geld
bewilligen, aber nicht geben. Schon im Dezember 1888 kam es
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXX. 25