Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfter Jahrgang. 1889. (30)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April Mitte —-Mai.) 55 
er unter den obschwebenden Verhältnissen eine ersprießliche agita- 
torische Thätigkeit in Berlin nicht für möglich halte. Für die Zu- 
kunft habe sich Stöcker selbstverständlich in keiner Weise gebunden. 
Der Stöcker nahestehende „Reichsbote“ schreibt: 
„Stöcker werde sich vorläufig von dem eigentlichen Parteikampfe fern 
halten, weil er denselben unter den gegenwärtigen Verhältnissen für zweck- 
los hält. Sobald er sich aber überzeugt, daß diese Zurückhaltung schädlich 
wirkt und ein Wiedereintreten in den Parteikampf notwendig ist, wird er 
wieder in denselben eintreten; seine Entschließung ist durch nichts behindert. 
Vorläufig, bis nach den nächsten Reichstagswahlen, wird der Parteikampf 
in Berlin durch Stöcker nicht gestört werden. Selbstverständlich werden sich 
unter den obwaltenden Verhältnissen auch seine Gesinnungsgenossen des Par- 
teikampfes enthalten. Die Mittelparteiler werden Gelegenheit haben, ganz 
ungestört zu zeigen, was sie können.“ 
Hofprediger Stöckers eigenes Organ, das „Volk“, schreibt mit 
Bezug auf den Rücktritt seines Gründers: 
„Als Jesus Christus sich mit der heuchlerischen Sippe der Pharisäer 
und Schriftgelehrten auseinanderzusetzen hatte, nannte er sie Otternbrut u. s. w. 
Mit heiligem Zorne entlarvte er ihr heuchlerisches Wesen. Und doch war 
er der Holdseligste und Sanftmütigste, der nicht drohte, da er litt.“ Es 
seien die richtigen Nachkommen der Pharisäer und Schriftgelehrten, der 
Otternbrut, welche sich auch in den Angriffen gegen Stöcker hervorthun 
„Was Christum kreuzigte und was den Hofprediger Stöcker seit dem ersten 
Tage seines Auftretens mit tausend Nadelstichen, mit zahlreichen Verleum- 
dungen, mit noch mehr Verdächtigungen, mit ungezählten Bosheiten verfolgte, 
— es ist im Grunde ein und dasselbe."“ 
In einem weiteren Artikel schreibt das „Volk“: 
„Die evangelische Kirche hat nur einen geistlichen Vertreter im Reichs- 
tage und Landtage, das ist der Hofprediger Stöcker. Und diesem einzigen 
will man nicht gestatten, daß er öffentlich das Schwert der scharfen Rede 
führe gegen die offenbaren Feinde evangelischen Christentums und christlichen 
Volkstums; man will nicht, daß er von „Politik“ rede; aber die politischen 
Zeitungen, die jüdisch-freisinnigen Tagesblätter mischen sich täglich in die 
Angelegenheiten der evangelischen Kirche und suchen die evangelischen Christen 
ihrem Glauben zu entreißen. Soll darüber geschwiegen werden? Dann 
werden die Steine schreien! Nie und nimmer kann die evangelische Kirche 
dazu schweigen Wenn vorübergehend die staatliche Gewalt es durchsetzt, 
daß sie den einzigen geistlichen Vertreter der evangelischen Kirche in den 
Parlamenten am politischen Reden hindert, so wird auch das dazu dienen, 
den evangelischen Christen die Augen zu öffnen über den Zustand der Knecht- 
schaft und Knebelung, in welchem sich ihre Kirche befindet, während der 
kaiholischen Kirche im evangelischen Preußen der freieste Spielraum auch auf 
politischem Gebiete gelassen ist.“ 
Ebenso nehmen die Christlich-Sozialen in einer Versammlung 
zu Ehren Stöckers eine Resolution an, in der sie erklären, nach wie 
vor „in altem Vertrauen und unentwegter Treue für ihren in 
Sturm und Kampf erprobten Führer und ersten Präsidenten, Herrn 
Hofprediger Stöcker, einzutreten“. 
In Bezug auf die Wahl, die Stöcker, vor die Alternative
	        
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