Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Rußland. (Mai 26.) 265 
26. Mai. (Moskau.) Feierliche Krönung und Salbung 
des Zaren und der Zarin. 
Es finden große Festlichkeiten in Moskau statt, unentgeltliche Schau- 
spiele, Konzerte, Bewirtungen u. dgl. Der Zar erläßt folgendes Manifest: 
„Wir thun kund und zu wissen allen Unseren getreuen Unterthanen: Nach- 
dem Wir durch den Willen und die Gnade des Allmächtigen Gottes heute 
die heilige Krönung vollzogen und die heilige Salbung empfangen haben, 
knieen Wir am Throne des Herrn der Herrscher mit der inbrünstigen Bitte 
nieder, die Dauer Unserer Regierung zum Heile des geliebten Vaterlandes 
zu segnen und in der Erfüllung Unseres heiligen Gelübdes Uns zu be- 
stärken, treu und unentwegt das von den gekrönten Vorfahren übernommene 
Werk des Ausbaues des russischen Landes und der Befestigung des Glaubens, 
der guten Sitte und der wahrhaften Erleuchtung fortzusetzen. Indem Wir 
erkennen, was allen Unseren getreuen Unterthanen Not thut und insonder- 
heit Unsere Blicke lenken auf die Mühseligen und Beladenen, seien sie dies 
auch aus eigener Schuld oder Pflichtvergessenheit, folgen Wir dem Drange 
unserer Herzen, auch ihnen die möglichsten Erleichterungen zu gewähren, 
damit sie an diesem denkwürdigen Tage Unserer Krönung, den Pfad eines 
neuen Lebens beschreitend, freudig an dem allgemeinen Jubel des Volkes 
teilnehmen können.“" Es folgen eine Anzahl Strafnachlässe und Amne- 
stierungen. Erlassen werden Steuerrückstände für das europäische Rußland 
und für Polen, die Grundsteuer wird auf 10 Jahre auf die Hälfte herab- 
gesetzt, Geldstrafen werden erlassen oder ermäßigt, Forderungen des Staates 
verschiedener Art werden niedergeschlagen. Ferner werden erlassen Verur- 
teilungen für leichtere Vergehen, welche mit Ermahnung, Verweis, Geld- 
strafe bis zu 300 Rubel oder mit entsprechender Haft bezw. Gefängnis be- 
droht sind; ausgenommen sind Diebstahl, Unterschlagung, strafbarer Eigennutz, 
Wucher, Erpressung, leichtfinniger Bankerott, Vergehen gegen Ehre und Ge- 
sundheit. Die nach Sibirien Verbannten können nach Ablauf von 12 Jahren 
nach dem Eintreffen daselbst, die nach entfernteren außersibirischen Gou- 
vernements Verbannten nach 10 Jahren einen freien Aufenthaltsort wählen 
mit Ausnahme der Hauptstädte und hauptstädtischen Gouvernements und 
ohne Wiederherstellung ihrer Rechte. Verbrecher, welche in Sibirien oder 
in entfernteren Gouvernements interniert oder an bestimmte Wohnorte ge- 
fesselt find, erhalten ein Drittel Strafermäßigung. Die zur Ansiedelung 
Verschickten sollen nicht nach 10, sondern schon nach 4 Juhren Bauern 
werden. Die zu Zwangsarbeit Verurteilten erhalten ein Drittel Straferlaß. 
Die Strafe einer lebenslänglichen Zwangsarbeit wird in zwanzigjährige 
herabgemindert. Ferner werden eine große Reihe anderer Strafmilderungen 
und eine Abkürzung der Verjährung befohlen. Der Minister des Innern 
ist ermächtigt, im Einverständnis mit dem Justizminister über die Strafen 
der Staatsverbrecher, welche nach Art ihrer Schuld oder wegen guten Be- 
tragens oder Reue eine Strafminderung verdienen, die über die allgemeine 
Amnestie hinausgeht, besonders zu berichten, ebenso der kaiserlichen Ent- 
scheidung Gesuche um Wiederherstellung der Geburtsrechte solcher Verschickten, 
welche nach Verbüßung der Verbannung sich durch makelloses und arbeit- 
sames Leben ausgezeichnet haben, zu unterbreiten. Der Minister des Innern 
wird ferner ermächtigt, die kaiserliche Entscheidung anzurufen über das 
Schicksal der wegen Staatsverbrechen auf administrativem Wege Bestraften, 
welche durch ihr Betragen, die Art ihrer Vergehen oder durch ihre Reue 
Nachsicht verdienen. Staatsverbrechen, welche nach dem Gesetze nicht ver- 
jähren, werden außer Verfolgung gesetzt, wofern seit der Strafthat 15 Jahre 
verflossen sind. Flüchtlinge aus dem Zartum Polen und aus den West-
	        
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