Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

Nebersicht der politischen Eutwichelung des Jahres 1892. 343 
knüpfte an jenen, damals von dem Lassalleaner v. Schweitzer ge- 
leiteten, rein lassalleanischen Parteitag an und zog triumphierend 
über die ungeheuren Fortschritte der Partei einen Vergleich zwischen 
damals und jetzt. Von den Wandlungen seitdem zeugte in der 
That schon der Ort, an dem diesmal der Parteitag stattfand: es 
war der größte und schönste öffentliche Versammlungssaal Berlins, 
die neuen künstlerisch ausgemalten Konkordiasäle, dazu ausgewählt. 
Das schöne Podium war über und über mit roten Stoffen, doch 
nicht ohne Geschmack ausgestattet. Die Größen der Partei, Singer, 
Bebel, Liebknecht, Auer hielten es mit andern besetzt. Die hintere 
Hälfte des Saales, sowie die Tribünen waren stets von einer zahl- 
reichen Zuhörerschar aus allen Ständen, vor allem aber von Ber- 
liner Arbeitern, die sich halbe Tage von ihrer Arbeit freigemacht 
hatten oder arbeitslos waren, besetzt. Die vordere Hälfte des Saales 
füllten die 230 Delegierten und einige Delegiertinnen an. Das 
Studium dieser Personen war besonders interessant. Es waren 
durchaus intelligente Gesichter mit scharfem, oft auffallend energi- 
schem Ausdruck unter ihnen. Ihre Haltung war selbstverständlich 
durchaus korrekt parlamentarisch. Aber der Gesamteindruck, den 
sie machten, war doch ein völlig anderer, als derjenige der Dele- 
gierten in Halle vor zwei Jahren. Damals, wenige Tage nach 
dem Falle des Sozialistengesetzes, lag helle Befriedigung über die 
eben erlebte große Befreiung und eine freudige Erwartung auf 
etwas nur erst Geahntes, Neues, auf allen Gesichtern, und alle 
waren wie durch eine elastische Spannung in Bewegung gehalten. 
Das fehlte diesmal durchaus. Ruhe und Nüchternheit war das 
Charakteristikum der Haltung der Delegierten. Man hat neuerdings 
daraus auf eine große Ermattung in der Partei und ihren heran- 
nahenden Zerfall geschlossen; aber nichts ist nach allen meinen per- 
sönlichen Eindrücken falscher als dies. Eine Wandlung hat sich 
freilich vollzogen, und eine Wandlung schwerwiegendster Art: man 
hat, nachdem das Wunderbare, das man wie eine Kinderschar er- 
wartete, nicht gekommen, sich zu der Erkenntnis durchgefunden, daß 
es mit dem Zukunftsstaate noch lange nichts ist, daß man, aller- 
dings jenes letzten Zieles stets eingedenk, nur durch ernste positive 
Arbeit etwas schaffen könne. Der vulgär-demokratische Revolutio-
	        
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