Oester-
reich-
Ungarn.
356 Mebersicht der politischen Eutwichelnns des Jahres 1892.
Was oben von Deutschland entwickelt ist, daß eine selbstän-
dige Regierung zwischen den Parteien bei allen einen gleichmäßigen
Unmut errege, trifft in noch viel höherem Maße bei Oesterreich zu.
Selbst in der Zeit, wo die österreichische Regierung sich wesentlich
auf eine flavisch-klerikale Koalition stützte, hat sie sich doch nicht
gänzlich mit ihr identifiziert und nur einen Teil ihrer Forderungen
erfüllt. Endlich suchte sie in demjenigen Kronlande, wo der poli-
tische Kampf am heißesten tobte, in Böhmen, einen Ausgleich her-
beizuführen. Es mißlang, da die schon lange unzufriedenen radi-
kalen Elemente des Tschechentums nunmehr bei dem Gedanken auch
der mäßigsten Zugeständnisse an die Deutschen in voller Leidenschaft
aufbrausten und sich von der Regierung trennten. Das tschechische
Volk stellte sich auf ihre Seite und ließ die alttschechische regierungs-
freundliche Gruppe im Stich. Die Folge war, daß die Regierung
sich zu den Deutschen hinüberwandte. Aber auch wieder nicht voll-
ständig; die alte Politik des Lavierens zwischen den Parteien und
Nationalitäten sollte fortgesetzt werden, nur mit einer stärkeren
Neigung zum Deutschtum und zum Liberalismus, statt wie bisher
zum Slaventum und zum Klerikalismus. Das ist ein Zustand,
der Parteien nicht befriedigen kann; unausgesetzt müssen sie um
ihren Einfluß ringen, feindlichen Einfluß abwehren, bei jeder Vor-
lage, jeder Personalfrage aufmerksam sein, drohen und kämpfen, um
ihre Ansprüche durchzusetzen. Also stete Unzufriedenheit, hüben und
drüben. Der unbefangene auswärtige Beobachter erkennt aber leicht,
daß es eben in Oesterreich nicht anders sein kann. Die unendliche Viel-
gestaltigkeit dieses Staatswesens, die Zerrissenheit durch religiöse, natio-
nale und wirtschaftliche Gegensätze ist so groß, daß eine einheitlich
längere Zeit in einer bestimmten Richtung fortstrebende Regierungs-
art ausgeschlossen ist. Nur durch fortwährende Kompromisse, die
nirgends ganz befriedigen, ist es möglich, vorwärts zu kommen,
und man muß es dem Grafen Taaffe zugestehen, daß er dieses
System nunmehr seit dreizehn Jahren mit großem Erfolg hand-
habt. Es wird nicht bloß „fortgewurstelt“, wie der österreichische
Ministerpräsident selber einmal gesagt haben soll, sondern der
Staat macht wesentliche wirtschaftliche und auch legislatorische Fort-
schritte und behauptet mit Erfolg seine europäische Stellung. Der