Das Dentshe Reihh und seine einzelnen Glieder. (Januar 28.) 35
freisinnige Partei beherrscht die ganze kowmunale Verwaltung Berlins und
vieler großen Städte; wo ist denn da die Religion aus dem blühenden
Volksschulwesen herausgeworfen worden, oder wo wird durch die Vertreter
dieser Parteien der Versuch gemacht, das zu thun? Meine Herren, es handelt
sich nicht um Religion, sondern um die Ausübung der Religionslehre,
über das Maß und die Art der Ausübung der Religion, wie sie in der
Volksschule stattfinden soll, aber nicht um die Frage: Religion oder re-
ligionslos.
Nun, meine Herren, der Herr Minister oder die Vertretung des
Ministerialentwurfs sagt: wir thun nichts anderes, als Verfassungsbestim-
mungen zur Ausführung bringen. Ja, meine Herren, man kann die Ver-
fassung sehr verschieden auslegen. Wie häufig sind wir schon in der Lage
gewesen, hier über Verfassungsbestimmungen unsere Meinungen auszu-
sprechen! Wenn ich, der ich kein Jurist bin, mich mit Juristen unterhielt,
und deren Auslegung erfragte, fand ich, daß ich immer so viele Meinungen
über die Auslegung der Verfassung in einem bestimmten Punkte hatte, als
gerade Juristen vorhanden waren. Deshalb ist auch die Auslegung, die
der Herr Kultusminister der Verfassung gibt, noch nicht die für uns allein
maßgebende. Jeder muß da nach seiner Auffassung sich selbst klar werden.
Aber, meine Herren, das eine kann ich Ihnen doch sagen: in den weitesten
Kreisen des Volkes wird das Eine doch nicht gefunden, daß in der Ver-
fassung irgend etwas stände, was diese reaktionären Einrichtungen in unserer
neniblch le fordern, wie sie der Gesetzentwurf des Herrn Grafen v. Zedlitz
vorschreibt.
Meine Herren, als der Herr Kultusminister vor einigen Tagen
meinte, er habe Berührungspunkte mit allen Parteien im Hause für seinen
Entwurf gefunden — nach der Rede des Herrn Abgeordneten Dr. Enneccerus
wären die Berührungspunkte mit der nationalliberalen Partei aber sehr
geringe geblieben — wurde ihm dazwischen gerufen: es seien gar keine Be-
rührungspunkte mehr vorhanden — darauf hat er erwidert: das wolle er
denn doch nicht hoffen. Aber, meine Herren, ich habe aus allen Reden des
Herrn Kultusministers bis jetzt nur Berührungspunkte mit uns gefunden,
die außerordentlich unwesentlicher Art waren; fundamentale Berührungs-
punkte auf fundamentalen gesetzlichen Bestimmungen habe ich keine gefunden.
Ich habe — ich will das ganz offen gestehen — jetzt einen viel größeren
Berührungspunkt mit dem Herrn Abgeordneten Dr. Porsch gefunden in
Bezug auf die Frage der Dissidenten, einem der wesentlichsten Punkte, die
in dem ganzen Gesetzentwurf stehen, aber mit dem Herrn Kultusminister
sind unsere Berührungspunkte viel geringere. Und wenn der Herr Kultus-
minister in seiner ganzen Art, mit uns zu reden, doch noch immer thut,
als wenn er Berührungspunkte mit uns suche, sie auch noch finden könne,
wenn er den Wunsch hegt, mit uns noch zusammen zu arbeiten und diesen
Entwurf zu stande zu bringen, wenn er meint, wir könnten uns ja doch
noch näher treten, so fügt er immer hinzu: aber leider bin ich nach den
Verfassungsbestimmungen nicht in der Lage, weitergehende Berührungs-
punkte mit den Nationalliberalen auszugestalten. Er stellt sich auf die
Verfassung, als sei diese — ich will mal sagen — gewissermaßen eine
Offenbarung, an deren Wortlaut wir uns halten müßten, wie an den
Wortlaut der Bibel. Die Verfassung ist aber Menschenwerk; sie ist aus der
Zeit und für die Zeit geboren, und, wenn nach der Meinung des Herrn
Kultusministers Verfassungsbestimmungen ihn hindern, unserer Auffassung
näher zu treten, so ist der Weg der Verfassungsänderung für ihn ein ganz
gegebener.
Der Herr Kultusminister hat letzthin gethan, als wenn eine Ver-
37