Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 3.) 37
uns den Frieden erhalten! Ja, ich weiß nicht, welche Diplomatie auf die
Dauer dazu im stande wäre, ohne auf eine den Ansprüchen entsprechende
Armee gestützt zu sein. Mein Herr Amtsvorgänger hat so wie ich die
Ueberzeugung gehabt, daß die gegenwärtige Kriegsstärke nicht hinreiche, daß
die Armee verstärkt werden müsse, und ich nehme an: Es ist niemand in
diesem Hause, der den Fürsten Bismarck nicht für eine diplomatische Au-
torität hält, wie sie in Jahrhunderten nur selten vorkommt. (Bravo!
rechts.) Sie haben keinen Anlaß, zu erwarten, daß solche Autoritäten
immer an der Spitze stehen werden; es gibt vermutlich auch keine; man
wird sie auch nicht immer zu finden wissen. Es wäre eine leichtfertige
kriegerische Organisation, die darauf basiert wäre, daß diplomatische Phä-
nomene immer an der Spitze unserer Geschäfte stehen. (Sehr richtig!)
Sie werden Friedrich dem Großen nicht absprechen wollen, daß er
mit dem höchsten militärischen Talent diplomatisches Talent verbunden hat,
und doch hat Friedrich der Große es nicht hindern können, daß er zu Zeiten
gegen halb Europa in Waffen stand; seine diplomatische Kunst reichte nicht
hin, sich diese Feinde vom Halse zu schaffen.
Also wir wollen den Frieden aufrecht erhalten. Können wir das
aber nicht, werden wir, was Gott verhüten wolle, zum Kriege gedrängt —
wir werden ihn nie suchen —, so wollen wir siegen. (Bravo! rechts.) Wir
wollen nicht unterliegen, sondern wir wollen dann die Herren des Schlacht-
feldes bleiben und auch nach dem Feldzug unser Geschick nicht in die Hände
von Fremden legen, sondern in unseren eigenen behalten. (Bravo! rechts.)
Zum Siegen gehören Truppen, gute Truppen. Wie viel, kann kein
Mensch im voraus wissen, und der Streit um Ouantität und Qualität,
das Untersuchen darüber, wo bei einem Menschen der Verdacht anfinge, er
sei von der Zahlenwut besessen, ist müßig.
Unter den europäischen Mächten herrscht eine gewisse internationale
Konkurrenz in Bezug auf die Armeestärke. Keine Macht kann sich dem
entziehen; keine Macht kann abrüsten. Wenn man nicht die Gründe, die
zur Rüstung geführt haben, aus der Welt schaffen kann, oder wenn man
sich eben nicht das gefallen lassen will, was andere für gut halten einem
zu bieten, so würde man, wenn man heute auch abrüstet, morgen doch von
neuem rüsten müssen. Keine Macht kann wesentlich hinter der Kriegsstärke
anderer zurückbleiben; keine Macht kann dulden, daß andere wesentlich über
die eigene Kriegsstärke hinausgehen; sie wird davon in Mitleidenschaft ge-
zogen und muß nachfolgen — denn ein Stehenbleiben auf dem inferioren
Standpunkt wäre einer Abrüstung im Kleinen gleichbedeutend.
Nun sagen Sie uns: wir haben ein großes Vertrauen zur Armee,
und ihr werdet nicht geschlagen werden. Ja, dieses Vertrauen zur Armee
ist sehr schätzenswert; aber ich habe noch keinen Menschen gesehen, der die
Garantie dafür übernehmen kann, daß man mit einer gewissen Truppenzahl
unter gewissen Verhältnissen nicht geschlagen werden wird. Sie sagen uns
mit anderen Worten, meine Herren: wir sind nicht geneigt, euch das zu
geben, was ihr haben wollt; ihr seid eine gute Armee, wir wissen ja, ihr
habt tüchtige Generale; nun siegt gefälligst billiger! Das ist eben nicht zu
machen.
Man sagt: wir haben nicht allein Vertrauen zur Armee, sondern
man setzt hinzu, das ganze deutsche Volk fürchtet nur Gott. Schön!
Wundervoll! Aber man kann so furchtlos ins Gefecht gehen wie der erste
Held der Welt und hat keine Garantie dafür, daß man nicht geschlagen
wird, wenn die Waffen und die Kräfte unzureichend sind. Der Feldmar-
schall Moltke hat im Jahre 1870 den Krieg mit einer Ueberlegenheit an-
gefangen, die nahezu das Doppelte derjenigen französischen Streitkräfte be-