Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

38 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 3.) 
trug, die uns beim Beginn der Campagne gegenüberstanden; und wer sich 
davon überzeugen will, was dieser Feldherr über den Wert der Stärke im 
Kriege dachte, der mag im ersten Bande des Generalstabswerks die Denk- 
schrift nachlesen, die der Feldmarschall für die Eröffnung des Krieges ent- 
worfen hatte. Ich habe mir in der Kommission erlaubt, aus einer neun 
Jahre später entworfenen Denkschrift des Feldmarschalls Moltke den größten 
Teil — und zwar den wesentlichen ohne die Formalien — vorzulesen; 
darin sagt der Feldmarschall: 
Einen Angriff Frankreichs abzuwehren sind wir im stande; ver- 
möchten wir das nicht mehr aus eigenen Kräften, so könnte ein deutsches 
Reich auf die Dauer überhaupt nicht bestehen. 
Er spricht nicht von einem Angriff, sondern er spricht von einer 
Abwehr; er schließt daran einen Satz, worin er über den Wert der Fest- 
ungen Metz und Straßburg und den Wert des Rheins als Barriere spricht. 
Wir haben nicht die Absicht — und das will ich ausdrücklich bemerken, 
weil trotz des vielen Redens und Schreibens die Unterschiede von politischer, 
strategischer und taktischer Offensive und Defensive immer noch nicht ganz 
in das Bewußtsein größerer Teile der Bevölkerung übergegangen find — 
wir haben nicht das Bestreben und werden es niemals thun, einen Krieg 
mit einer politischen Offensive zu beginnen, also so zu sagen vom Zaune 
zu brechen. Aber wir haben, unserer Tradition entsprechend, das Bedürf- 
nis, in der Lage zu sein, einen Krieg strategisch offensiv zu beginnen, also 
mit anderen Worten, nicht zu warten, bis man den Krieg auf unsern 
Boden trägt, sondern, soweit wir es können, den Schauplatz auf feindlichen 
Boden zu legen. Das schließt der Feldmarschall v. Moltke hier schon aus; 
er sagt: wir werden abwehren können, wir werden defensiv sein können, — 
und er sagt das im Jahr 1879, wo der Unterschied zwischen den franzö- 
sischen personellen und materiellen Streitkräften und den unfrigen bei weitem 
nicht so groß war, wie er es heute ist. 
Wir sind auf die Offensive angewiesen — nicht allein, weil sie vor- 
aussichtlich immer die wirksamste Kampfesweise ist, sondern auch, weil sie 
unseren Traditionen entspricht und weil sie das einzige Mittel ist, uns das 
zu geben, was wir bei der Natur unserer Nation, unserer wirtschaftlichen 
Verhältnisse bedürfen: Schnelle Erfolge, kurze Kriege und die Vermeidung 
sich schnell wiederholender Kriege. 
Zu diesen Dingen ist es notwendig, auf dem feindlichen Boden zu 
stehen, den feindlichen Boden zu betreten. Ich habe den guten Glauben, 
den Feldmarschall Moltke im Jahre 1879 hatte, daß wir im stande sein 
werden, den feindlichen Angriff abzuwehren, noch heute, obwohl die Ver- 
hältnisse sich zu unseren Ungunsten verändert haben. Ob es aber noch mög- 
lich sein sollte — ich will nur nach Westen sehen, ich will nicht von zwei 
Fronten reden, ich will den einfachsten Fall nehmen, der denkbar ist, den 
Krieg gegen Frankreich — ob es da noch möglich sein sollte, die Offensive 
zu ergreifen, und wie weit wir sie führen können, das mag dahingestellt 
bleiben. 
Wir haben Grenzen, die so schwierig liegen wie kaum die einer 
anderen Nation. Ich habe in der Kommission darüber gesprochen und 
habe es auch im Plenum hier schon angedeutet, ich muß es aber wieder- 
holen; die Lage ist zu ernst. Man nimmt das zu leicht, man setzt sich über 
das Schicksal, was die Grenzlande und -Provinzen treffen kann, zu cava- 
lièrement hinweg. Wir haben auf dem linken Rheinufer eine nicht abge- 
schlossene Grenze, an deren äußerstem Ende eine große Festung liegt; eine 
zweite liegt weit zurück; man mag diese schützen wie man will, so kann 
man doch, wie der Herr Feldmarschall von Moltke annimmt, bei der Ab-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.