Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 4.) 49
erklären, daß wir das nicht thun würden, und, um es in eine einfache
Formel zu fassen: daß, wenn es zu Neuwahlen kommt, unsere Wahlparole
der Antrag Huene sein wird.
Abg. v. Stumm spricht für die Vorlage.
Abg. Bebel (Soz.). Wir haben die Politik Deutschlands nicht
anders gestalten können, aber wenn auswärtige Feinde Deutschland angreifen
und einen Teil seines Gebiets zu erobern versuchen sollten, so würden auch
wir Sozialdemokraten das nicht dulden. Denn nur, wenn Deutschland in
seinem vollen Umfange erhalten wird, ist es möglich, seine Kulturaufgaben
zu erfüllen. Wenn dem Volke neue Opfer auferlegt werden sollen, so muß
es so geschehen, daß sie das Volk möglichst wenig drücken; das Volk ist
aber hart an der Grenze der materiellen Leistungsfähigkeit angekommen, das
bedarf kaum eines Beweises, In breiten Volksmassen ist man nicht mehr
gewillt, erhöhte Lasten auf sich zu nehmen. Wenn es auf die freie Ent-
schließung der Herren in diesem Hause ankäme, so würde die Vorlage be-
willigt werden, aber die Herren glauben die Annahme der Vorlage nicht
mehr vertreten zu können. Wenn die Auflösung erfolgte, dann wissen wir
sehr gut, daß man den Versuch machen wird, das allgemeine Wahlrecht zu
schmälern. Aber es ist viel leichter, dem Volk ein Recht vorzuenthalten,
als ein zwei Jahrzehnte lang gebrauchtes Recht wieder zu entreißen. In
Belgien war es der General Brialmont, welcher sich für das allgemeine
Wahlrecht aussprach, weil er es als ein Korrelat zu der allgemeinen Wehr-
pflicht betrachtete. Die Belastung des deutschen Volkes ist eine solche, daß
die Grenze der Leistungsfähigkeit erreicht ist. Der Getreidekonsum im Deutschen
Reich ist zurückgegangen von 213 kg auf 162 kg. Das bedeutet schließ-
lich auch das Zurückgehen der körperlichen Leistungsfähigkeit. Noch mehr
ist die Fleischnahrung zurückgegangen. Aber nicht bloß unter den Arbeitern,
sondern auch unter den Handwerkern, den Kleinbauern ist eine große Miß-
stimmung eingetreten; deshalb stimmen auch die Herren vom Zentrum aus
Süddeutschland gegen die Militärvorlage und gegen den Antrag Huene.
Die allgemeine Verstimmung ist nicht durch die Schuld der Regierung ent-
standen, sondern aus allgemein ökonomischen Gründen. Die Militärvorlage
ist der letzte Tropfen, der das Glas zum Ueberlaufen bringt. Wären die
wirtschaftlichen Verhältnisse günstiger, so würde auch der Mittelstand für
die Vorlage sein, wie die Herren aus den Kreisen des Abg. Freiherrn
von Stumm, weil sie weder die Gutssteuer, noch die Blutssteuer zu tragen
haben. Denn bei Annahme der Vorlage würden nicht die wohlhabenden
Leute die Kosten tragen, sondern die Konsumartikel der großen Masse müßten
dafür bluten. Der Reichskanzler hat eine Stelle aus den Artikeln des „Vor-
wärts“ über die Abrüstung zitiert, in welcher eine Aufreizung gegen die
Unteroffiziere enthalten sein soll. Es war darin aber nur gesagt, daß die
Unteroffiziere, welche jetzt in den Kasernen sich verhärten, so daß es sogar
zu Mißhandlungen kommt, wenn sie mit der frischen fröhlichen Schuljugend
als Exerzierlehrer in Berührung kommen, wieder zu warmherzigen Menschen
werden. Wenn unsere Unteroffiziere es mit einem Menschenmaterial zu
thun hätten, welches körperlich besser vorgebildet wäre, dann würden manche
Uebelstände verschwinden. Ueberraschend waren die Mitteilungen des Kriegs-
ministers, daß die Zahl der Militärtauglichen 75% größer ist als früher.
Dabei wird der Uebereifer der Aushebungskommission wohl mitgewirkt
haben; aber jedenfalls ist es richtig, daß viele junge Leute, die tauglich
sind, vom Militärdienst befreit bleiben. Wir wollen, daß die Organisation
so eingerichtet wird, daß alle diese Leute herangezogen werden können; dazu
ist eine kürzere Dienstzeit notwendig, um die Militärlasten niedriger zu
stellen. Die Einführung des Milizsystems würde die Kosten vielleicht auf
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXXIV. 4