Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 7.) 53
„An die deutschen Wähler! Die Reichsregierung hat dem Reichstag
die Annahme eines Gesetzes angesonnen, welches eine Steigerung der Militär-
lasten in sich schließt, größer als in allen Vorlagen seit 1872 zusammen-
genommen. Der Reichstag prüfte, und seine Mehrheit fand, daß bei der
Stärke unseres Heeres und unsrer Rüstung, bei der wirtschaftlichen Be-
drängnis großer Volkskreise, bei den Fehlbeträgen im öffentlichen Haushalt,
dem bedrohlichen Anwachsen der Steuerlast und der Reichsschuld die An-
nahme der Vorlage eine schwere Gefahr für die gedeihliche Entwickelung
unseres Staats- und Erwerbslebens bedeutet. Diejenige Vermehrung der
Kriegsstärke, welche innerhalb der gegenwärtigen Friedenspräsenz durch die
dauernde Einführung der 2 jährigen Dienstzeit erreichbar ist, waren auch
wir Gegner der Vorlage zu sichern bereit, aber die Regierung bestand, ohne
in einem wesentlichen Punkte nachzugeben, auf ihren hohen Forderungen;
dazu sollte die 2 jährige Dienstzeit nach fünf Jahren widerruflich sein. Nach
Zurückweisung einer solchen Forderung ist der Reichstag aufgelöst worden.
Die Neuwahlen sind zum 15. Juni ausgeschrieben. So hat die Wähler-
schaft nun selbst die Entscheidung zu treffen. Scharf und klar muß sie er-
kennen, worauf es ankommt, und den Blick sich nicht trüben lassen durch
trügerische Vorspiegelungen, wie sie bei der Auflösung des Jahres 1887 mit
Erfolg versucht worden sind. Geht aus den Wahlen eine gefügige Mehr-
heit hervor, so ist einer rücksichtslosen Steigerung der Militärlasten auch in
anderer Richtung keine Grenze mehr gesetzt. Mit der fortgesetzten Erhöhung
der Verbrauchsabgaben treibt die Finanznot des Reichs der Einführung von
Monopolen entgegen. Die Neuwahlen gelten für die lange Dauer von fünf
Jahren. Schroff in der Abweisung volkstümlicher Reformen erweist sich
die Regierung schwach gegenüber den Plänen des Rückschrittes. Das Recht
der Freizügigkeit, die Solidität der deutschen Währung, die Erweiterung
des Absatzes im Ausland durch Handelsverträge sind bedroht. Der Bund
der Sonderbestrebungen fordert Preisgabe allgemeiner Interessen und stärkt
jene rückläufige Bewegung, welche das schwer errungene Gefühl staatsbürger-
licher Gemeinschaft in den Gegensatz der Berufsstände aufzulösen strebt. Die
Sucht, alle sozialen und wirtschaftlichen Uebelstände durch Straf- und Polizei-
gesetze zu heilen, droht, neue Auswüchse zu zeitigen. Wird solchen Be-
strebungen nachgegeben, so treibt die Furcht vor der unaufhaltsam wachsenden
Unzufriedenheit alsbald wieder zum Erlaß von Ausnahmegesetzen und zur
Verkümmerung der Preßfreiheit, des Vereins- und Versammlungesrechts.
Schon wird im reaktionären Lager die Abschaffung des allgemeinen gleichen
und direkten Wahlrechts, dieses Grundpfeilers unfrer Reichsverfassung, mit
dreister Stimme gefordert. Deutschland steht an einem Wendepunkt seiner
inneren Entwicklung, und die deutschen Wähler haben zu entscheiden, ob es
im Vaterlande vorwärts gehen soll oder rückwärts. Der Kampf wird kein
leichter sein. Im Dienst unsrer politischen Grundsatze müssen wir gewappnet
stehen wider die Gegner von rechts und von links. Alle Bestrebungen, die
staatsbürgerlichen Rechte eines Teils der Bevölkerung um der Abstammung,
des Bekenntnisses und der politischen Ueberzeugung willen zu beeinträchtigen,
werden in gleichem Maße zu bekämpfen sein, wie die Irrlehren, welche in
der Beseitigung unsrer Gesellschaftsordnung das Heil der Zukunft erblicken.
Als die Volksvertretung am 6. Mai ihre Entscheidung traf, war sie sich
bewußt, dem Volke getreu zu sein. Wir vertrauen dem Volke, daß es seiner
Vertretung am 15. Juni nicht untreu werden wird. Nach außen stark, soll
das Reich im Innern ein Hort des freien Bürgertums sein. Es gilt, ohne
Schwanken und ohne Halbheit vorwärts zu schreiten und das Banner des
Gemeinwohles mit Thatkraft und Entschlossenheit zu entfalten."“
Dieser gemeinschaftliche Wahlaufruf wird vielfach als die