Das Deutsche Reich und seine einelnen Glieder. (Sept. 21./23.) 151
hätte; denn für diese scheint in erster Linie der persönliche Einfluß des
polnischen Adels maßgebend zu sein. Man erzählt sich dort, daß der sehr
gewandte, äußerst liebenswürdige und diplomatisch veranlagte Erzbischof
v. Stablewski, der Repräsentant eines alten polnischen Adelsgeschlechtes,
einen maßgebenden Einfluß auf den Oberpräsidenten und den komman-
dierenden General gewonnen habe, einen Einfluß, der sich zuerst gesellschaft-
lich, dann aber auch politisch bemerkbar mache. Offensichtlich tritt das
Bestreben des Erzbischofs hervor, die Rolle eines „Primas von Posen“ zu
spielen, dafür spricht sein ganzes Auftreten, insbesondere bei den Land-
fahrten durch die Provinz, wobei er dem sechs- oder achtspännigen Wagen
gern ein Geleit von Ulanen in polnischer Nationaltracht vorreiten läßt.
Daß der Erzbischof der bevorzugte Berater des Oberpräsidenten ist, zu dem
dieser oft seine Zuflucht nimmt, geht schon rein äußerlich daraus hervor,
daß der Oberpräsident sehr häufig den Erzbischof aufsucht, so daß es bei-
nahe den Anschein gewinnt, als ob der Oberpräsident den Erzbischof als
eine höhere Autorität anerkenne. Von Besuchen des Erzbischofs beim Ober-
präsidenten hört man nichts. Wohl aber verlautet, Herr v. Wilamovwitz-
Möllendorf sei durch seinen vertrauten Verkehr mit dem polnischen Adel
und der polnischen Geistlichkeit zu der Ueberzeugung gekommen, es sei über-
haupt nicht mehr möglich, sich der fortschreitenden Polonisierung Posens
zu widersetzen, und man müsse froh sein, wenn man die Polen nur in
einigermaßen milder Stimmung erhalten könne.“
21. September. (Koscielski.) Erklärung des Hrn. v. Kos-
cielski in der „N. Fr. Presse“ s. Osterreich.
21./23. September. (Eisenach.) Parteitag der freisinnigen
Volkspartei Thüringens.
Anwesend sind ca. 400 Delegierte aus 170 Wahlkreisen. Die all-
gemeinen Bestimmungen des Programms, Aufrechterhaltung der bundes-
staatlichen Verfassung, Gleichheit vor dem Gesetz, Recht der Meinungs-
äußerung u. s. w. werden ohne längere Debatte angenommen, dagegen kommt
es über die Volksschule zu einem lebhaften Meinungsaustausche, in dem
Abg. Richter nur mit Mühe seinen Willen, Ablehnung der Vokks-
einheitsschule, durchsetzen kann. Ferner wird im Programm die Re-
form des Einjährig-Freiwilligen-Instituts gefordert.
Viele freisinnige Kreise sind mit dem Verlaufe des Parteitags un-
zufrieden, so veröffentlicht die „Volks-Ztg." eine Zuschrift, in der es
heißt: „Es habe sich auf dem Parteitage eine Unsumme von Unzufrieden-
heit angehäuft, weil Richter bei jedem kritischen Fall die Kabinetsfrage
gestellt habe. Sobald ein der Parteileitung nicht genehmer Antrag Aus-
sicht auf Annahme zu haben schien, drohte Richter mit seinem Rücktritt.
Die treuesten alten Anhänger sind verstimmt und werden in ihrem Schaffen
erlahmen. Der Parteitag in Eisenach ist der Todestag der freisinnigen
Volkspartei, das sei der Ausspruch vieler Delegierten zum Parteitage
Der Abg. Richter befolgt dieselbe Taktik, die er bereits auf dem Berliner
Parteitage versucht hat. Denn schon auf diesem hat der Abg. Richter mit
seinem Rücktritt gedroht, wenn die Forderung des allgemeinen gleichen
Wahlrechts für die Kommunen in das Programm aufgenommen würde.
Was diese Taktik bedeutet, wird erst dann verständlich, wenn man weiß,
daß niemand mit größerer Spottlust sich darauf losstürzte, als der Abg.
Richter, wenn der frühere Reichskanzler bei kritischen Gelegenheiten die
Kabinetsfrage stellte.“