Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 27.) 85 
von Oesterreich-Ungarn und Italien mir ihre Freude über das Zustande- 
kommen dieses Vertrags haben aussprechen lassen. (Hört, hört!) 
Es ist also mit diesen persönlichen Schwierigkeiten, die man in die 
Sache hat hineintragen wollen, nichts; sie existieren nicht. 
Nun weiter, wie steht der Vertrag zu unserer auswärtigen Politik? 
Darüber zu sprechen, ist unendlich schwer, man begibt sich auf das Gebiet 
der Hypothese: der eine kann diese Folgerung daran knüpfen, der andere 
jene; der eine ist nicht zu widerlegen und der andere ebenso wenig. Ich 
halte es für rätlicher, die Frage so hinzustellen: was sind denn die Ziele 
unserer Politik und wie weit steht der Handelsvertrag mit ihnen im Ein- 
klang? Wie weit widerspricht er ihnen? Die Ziele der deutschen Politik 
sind seit Jahrzehnten die Erhaltung des Friedens, die Wahrung des deut- 
schen Ansehens, deutscher Ehre, deutscher Würde. Die Wahrung des Frie- 
dens! Als wir den ersten Handelsvertrag mit Oesterreich-Ungarn schlossen, 
ist hier ausgesprochen worden, daß das im Interesse des Friedens geschähe; 
der Dreibund ist erneuert worden um des Friedens willen, er verfolgt 
friedliche Ziele, und selbst bei der Armeevorlage haben wir Ihnen aus- 
gesprochen, daß diese Armeevorlage bestimmt ist, in erster Linie den Frieden 
zu erhalten, und erst in zweiter, wenn die dira necessitas uns treibt, den 
Sieg zu erringen. Also unsere Politik ist friedlich, und man wird nicht 
in Abrede stellen können, daß auch dieser Handelsvertrag ein friedliches 
Werk ist. Zu meinem Bedauern hat ein gestriger Redner ihm eine andere 
Bedeutung gegeben; er hat ihn von einem anderen Standpunkte angesehen, 
oder richtiger, er hat ihn — nicht mit diesen Worten, aber sachlich — als 
militärischen Fehler bezeichnet. Er hat gesagt: weil jenseits der Grenze 
so und so viel Armeekorps ständen, könne man einen solchen Vertrag nicht 
schließen. Ich halte das nicht für richtig. Wenn der Herr die letzten 
Konsequenzen seines Gedankens ziehen wollte, so würde er zum Kriege mit 
Rußland kommen; wenn wir nicht mehr im Stande wären, friedliche Ver- 
einbarungen mit Rußland zu treffen, was würde dann anderes noch übrig 
bleiben als die Entscheidung mit dem Schwerte? Es mag jenseits der 
russischen Grenze stehen, was will — uns ist die Freiheit unbenommen, 
auch diesseits der Grenze aufzustellen, was wir aufstellen wollen. Aber 
kein Mensch wird, wie mir scheint, mit einiger Wahrscheinlichkeit deduzieren 
können, daß zunächst der Handelsvertrag nicht abzuschließen wäre, weil 
Rußland eine gewisse Anzahl von Armeekorps jenseits seiner Grenze stehen 
hat. Es ist nicht in Abrede zu stellen, daß der Handelsvertrag die Wir- 
kung haben kann und haben wird, daß er die Spannung zwischen den 
Nationen vermindert, daß er die Friedenszuversicht in Europa unter den 
Nationen vermehrt. Man hat wohl den Satz aufgestellt, politische Freund- 
schaft und wirtschaftliche Feindschaft ließe sich sehr gut mit einander ver- 
einigen. Es ist nicht zu leugnen, daß das unter gewissen Umständen in 
sehr starken, geschickten Händen, unter günstigen Verhältnissen, gestützt auf 
ein großes Ansehen der eigenen Macht, wohl möglich ist. Unwahrscheinlich 
aber bleibt solcher Fall. Ich will nicht auf die Verhältnisse im Auslande 
exemplifizieren; es wäre nicht schwierig, dergleichen anzuführen, — ich will 
aber Sie bitten, Ihren Blick auf das Inland zu richten. Hat denn das 
Hervorkehren wirtschaftlicher Tendenzen den Frieden im Innern von Deutsch- 
land vermehrt? Ich glaube nicht. (Sehr richtig! links.) Je mehr diese 
Verhältnisse pointiert worden sind, um so mehr ist zwischen verschiedenen 
Ständen und Berufsklassen Feindschaft ausgebrochen. (Sehr richtig! links.) 
Sollte nicht dasselbe in noch stärkerem Maße der Fall sein zwischen Völkern, 
die ohnehin keine gemeinsamen Interessen und die nicht die gemeinsame 
Vaterlandsliebe haben? Ich glaube wohl.
	        
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