Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

6 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 12.) 
polnischen Provinzen alles beseitigen, was Unzufriedenheit schafft. Pr. Min. 
des Innern v. Köller: Die Vorlage sei kein Ausnahmegesetz, sondern be- 
kämpfe die Sozialdemokraten auf dem Boden des gemeinen Rechtes. Die 
Sozialdemokratie reize grundsätzlich zu Verbrechen gegen das Eigentum 
und die staatliche Ordnung und zur Beschimpfung der Religion an. 
12. Januar. (Reichstag.) Umsturzvorlage. Rede Hohen- 
lohes. Frohme gegen Stumm. 
Nachdem Abg. Spahn (3.) wohlwollende Prüfung der Vorlage in 
der Kommission zugesichert hat, ergreift das Wort Reichskanzler Fürst zu 
Hohenlohe-Schillingsfürst: Meine Herren, der bisherige Gang der 
Verhandlungen über den vorliegenden Gesetzentwurf läßt mich hoffen, daß 
die Bedeutung des Gesetzentwurfs vom Reichstag gewürdigt wird, und daß 
Sie denselben einer Kommission zur näheren Prüfung überweisen werden. 
Ich glaube annehmen zu dürfen, daß Sie die Gefahren, von welchen die 
Staatsordnung und die bürgerliche Gesellschaft bedroht sind, erkennen und 
Abhilfe schaffen wollen. Die verbündeten Regierungen find der Ansicht, 
daß es notwendig sei, den Besorgnissen weiter Kreise der Bevölkerung, 
welche sich in ihren heiligsten Gefühlen verletzt und in ihrem Besitz bedroht 
sehen, Rechnung getragen werden muß. Zwei Wege boten sich dazu: der 
Weg des Ausnahmegesetzes und der Weg der Verschärfung einzelner Be- 
stimmungen des Strafgesetzbuches. Es schien nicht ratsam, den Weg des 
Ausnahmegesetzes zu betreten. Ob die günstigen Erwartungen, die man 
seinerzeit an das Gesetz von 1878 geknüpft hat, wirklich eingetreten sind 
oder nicht, das ist eine sehr bestrittene Frage, darauf gehe ich nicht weiter 
ein. Sachliche Erwägungen haben zu dem Entschluß geführt, die Reform 
auf dem Boden des gemeinen Rechts auszuführen. Infolge dessen mußte 
eine gewisse mittlere Diagonale innegehalten und Vorschriften erlassen werden, 
die einen Schutzwall für die höchsten Güter des Lebens gegen alle Angriffe 
zu bilden haben, von welcher Seite sie auch kommen mögen. Auf dieser 
maßvollen Grundlage bewegt sich der Gesetzentwurf und stellt, indem er sich 
nicht gegen eine bestimmte Partei, sondern gegen die gewaltthätigen Friedens- 
störungen in jeder Form richtet, das Mindestmaß dar, welches nach Ansicht 
der verbündeten Regierungen zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit 
im Reiche notwendig ist. Ich möchte noch zwei Punkte hervorheben. Es 
wäre vollkommen irrig, wenn man in der Vorlage eine Schmälerung des 
Rechtes der freien Meinungsäußerung sehen wollte. Eine derartige Absicht 
und eine solche Wirkung liegt dem Gesetz vollständig fern. Nicht irgend 
eine Meinung oder deren Aeußerung wird von dem Entwurf unter Strafe 
gestellt; sie wird strafbar nur durch die Form, in welcher sie sich geltend 
macht, indem diese in einer Aufforderung zu einer strafbaren Handlung 
besteht, eine öffentliche Friedensstörung oder einen öffentlichen Angriff ent- 
hält. Die Vorlage trifft nicht den Kampf der Meinungen, sondern fie 
trifft nur die Methode des Kampfes. Es ist ein völkerrechtliches Gesetz, 
daß im Kampfe der Völker unter einander keine vergifteten Waffen und 
keine explosiven Geschosse bei Handfeuerwaffen gebraucht werden dürfen. 
Denselben Grundsatz überträgt die Vorlage auf den Streit der Meinungen 
innerhalb der Volksgenossen. Im freien Austausch der Gedanken mag der 
Widerstreit der Ansichten ausgefochten werden; der Gegner soll überzeugt 
und überwunden, aber nicht verstümmelt oder vernichtet werden. Die gif- 
tigen Waffen des Hasses, der Verleumdung und der Gewalt sollen keine 
Anwendung finden unter den Angehörigen desselben Volkes. Der Glaube, 
der allen heilig ist, die grundlegenden Einrichtungen des Vaterlandes und 
der Familie, die allen gemein sind, sie müssen gegen öffentliche, den Frieden
	        
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