Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Das Vetsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 7.) 109 
Die nationalliberale Presse betont, daß der Delegiertentag die völlige Einig- 
keit der Partei dargethan habe. 
7. Oktober. (Hubertusstock.) Der Kaiser hält einen Kron- 
rat ab, an dem sämtliche Minister teilnehmen (vgl. unten 7. Dez.). 
Oktober. Die deutsche Presse über den Aufenthalt des Zaren 
in Paris. 
Die Presse untersucht vornehmlich, ob die russisch-französische An- 
näherung und Verbrüderung eine Gefahr für den Frieden darstelle oder 
nicht. Die Meinungen sind geteilt. 
„National-Ztg.": „Das Unberechenbare droht beständig Paris zu 
ergreifen, in den Sturm der Leidenschaft zu versetzen und mit Paris Frank- 
reich fortzureißen. Nicht in den ehrgeizigen Plänen des Dreibunds, in 
dieser Leidenschaftlichkeit und Leichtfertigkeit des französischen Volkes liegt 
die eigentliche Gefahr für den europäischen Frieden.“ 
„Magdebg. Ztg.“: „Schon seit Jahren hat die französische Hetz- 
presse, selbst die der schlimmsten Art, nicht mehr offen von dem geplanten 
Rachekrieg gegen Deutschland zur Rückeroberung von Elsaß-Lothringen zu 
sprechen gewagt. Die Mahnung Gambettas, immer daran zu denken, aber 
niemals davon zu sprechen, wurde seit dem Sturze Boulangers beobachtet. 
In der Begeisterung für den Zaren ist nun der französischen Presse wieder 
die bisher geübte Vorsicht abhanden gekommen.“ 
„Hamb. Nachr.“: „Wenn im Jahre 1891 die Keime der jetzigen 
Freundschaft zwischen Rußland und Frankreich gelegt worden sind, so darf 
man nicht vergessen, daß es sich dabei nicht sowohl um ein Ergebnis der 
russischen Neigung hierzu, als vielmehr um eine Folge des Umstandes 
handelte, daß Graf Caprivi im ersten Jahre seiner Amtsführung die vom 
alten Kurse wohlgepflegten doppelseitigen Beziehungen zu Rußland und zu 
Oesterreich-Ungarn als „zu kompliziert“ preisgegeben hatte, womit im vollen 
Einklange stand, daß dieser „Staatsmann“" es mit größtem Gleichmute in 
seiner nach Kronstadt gehaltenen Osnabrücker Rede als etwas ganz Natür- 
liches bezeichnete, daß das europäische Gleichgewicht durch das russisch-fran- 
zösische Abkommen wieder hergestellt sei." 
„Schles. Ztg.“: „In der öffentlichen Meinung Frankreichs wird 
sich aller Wahrscheinlichkeit nach sehr bald die Empfindung der Enttäuschung 
über das Nichtzustandekommen des heiß ersehnten Bündnisses mit Rußland 
in heftiger Weise Luft machen, da die französischen Chauvinisten ihre Hoff- 
nung auf Wiedererlangung Elsaß-Lothringens mit rusfsischer Hilfe wiederum 
auf unabsehbare Zeit werden vertragen müssen."“ 
Die „Köln. Ztg." hält es nach den Reden Faures und des Zaren 
für zweifellos, daß ein Zweibund, ein verbriefter und verbürgter Vertrag 
zwischen Frankreich und Rußland bestehe. Diesem Bunde vertragsmäßige 
echte abzusprechen, sei fürderhin nicht mehr zulässig; es könnte gefährlich 
werden, vor solch unzweideutigen Kundgebungen dem Vogel Strauß nach- 
zuahmen. Ebenso sicher sei, daß der russisch-französische Vertrag wie die 
Dreibundverträge lediglich die Abwehr, nicht den Plan eines Angriffes 
vorsehe. Indes sei unleugbar, daß die Masse des französischen Volkes die 
russische Freundschaft in der Hoffnung gepflegt hat, Rußland werde helfen, 
Elsaß-Lothringen zurückzuerorbern. 
Die „Vossische Ztg.“ glaubt nicht an ein Angriffsbündnis: „Man 
wiegt sich in Frankreich in die Vorstellung ein, daß in Deutschland über 
die Pariser Zarentage und über die freundliche Haltung, die Kaiser Niko-
	        
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