110 Das Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 10.—11.)
laus eingenommen, große Bestürzung herrsche. So viel wir wissen, beur-
teilt man in Deutschland sowohl in den Kreisen der Regierenden als des
Volkes die Sachlage sehr ruhig."“
Das „Leipziger Tageblatt“ glaubt, die Reden Kaiser Nikolaus
hätten allen Hoffnungen den Boden entzogen, die sich an eine aggressive
Tendenz der frankoerussischen Verbrüderung geknüpft haben, aber die Repu-
blik sei nicht im entferntesten gesonnen, „auf den Revanchegedanken zu ver-
zichten, daß jeder Franzose von dem Antlitz des russischen „Bundesgenossen“
die Erfüllung seines sehnlichsten Hoffens und Wünschens lesen möchte und
daß dieses auch heute noch auf die Vernichtung des Frankfurter Friedens
und die Wiedererlangung Elsaß-Lothringens mit Rußlands Hilfe hinaus-
geht, spricht ja nur zu deutlich aus den Revancherufen, welche der offiziellen
Losung entgegen, einzelne Pariser Blätter, ohne Deutschland zu nennen,
dem Zaren geradezu ins Gesicht brüllen, spricht aus zahlreichen Aeußerungen
der französischen Presse vor dem Zarenbesuch, spricht aus Andeutungen
französischer Staatsmänner und hoher Militärs.“
10./12. Oktober. (Halle a./.) Parteitag der deutsch-sozialen
Reformpartei. Presse.
Die von 214 Teilnehmern besuchte Versammlung erklärt sich gegen
die Bäckereiverordnung des Bundesrates (S. 42), die nur von wenigen
Rednern verteidigt wird, und nimmt einige Resolutionen zur Organisation
des Handwerks und zur Einführung einer Versicherung gegen Arbeitslosig-
keit an.
In den nicht antisemitischen Blättern wird der Parteitag wenig be-
achtet, der Partei wohlwollender gegenüberstehende Organe wie die „Tägl.
Rundschau“" und das „Volk“ bedauern die laxen sozialpolitischen Be-
schlüsse des Parteitages.
11./16. Oktober. (Siebleben bei Gotha.) Parteitag der
sozialdemokratischen Partei.
Den Vorsitz führt Abg. Singer. Abg. Pfannkuch erstattet den
Kassenbericht. Die Einnahmen der Parteikasse betrugen im Berichtsjahr
270 171 Der „Vorwärts“ brachte einen Ueberschuß von 52073 4& An
Zinsen wurden 9200 J vereinnahmt. Von den 230 122 J betragenden
Ausgaben entfallen 14281 „ auf Unterstützung gemaßregelter Genossen
und deren Angehörigen, fast 6000 4 auf Prozeß= und Gefängniskosten,
41512 = auf allgemeine Agitation, 24147 JX auf „Reichstagskosten“,
1623 JX auf Agrararbeiten, 15000 „C auf Verwaltungsausgaben, 48720 -#
auf das Darlehnskonto und 69331 JX auf Preßunterstützungen, die sich
zwischen 100 und 17700 MA bewegen und 20 Blätter betreffen.
Ueber die Parteipresse, die Abg. Pfannkuch als durchaus unbe-
friedigend bezeichnet, entspinnt sich eine überaus heftige und lange Debatte
(am 12. und 13. Oktober). Es wird u. a. Steiger, der Redakteur der
„Neuen Welt“ wegen der naturalistischen Kunstrichtung des Blattes von
Frohme scharf angegriffen, von Schönlank verteidigt. Antrick wendet
sich gegen die Leitung des „Vorwärts“, der an Direktionslosigkeit leide,
zu den wichtigsten Fragen keine Stellung nehme, sie verschweige oder damit
nachhinke und sich fortwährend widerspreche. Man müsse Liebknecht einen
Direktor zur Seite stellen. Abg. Liebknecht: Der „Vorwärts" könne als
Zentralorgan und Lokalblatt unmöglich aus einem Guß sein. Ferner werden
gegen Dr. Quarck laute Vorwürfe erhoben, da er als „verkrachte bürger-
liche Existenz“ die Gewerkschaftsbewegung gegen die politische Partei aus-