Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

118 Das Beutsche Reich und seine einzeluen Glieder. (Oktober Ende.) 
was den Fürsten Bismarck veranlaßt haben mag, gerade in diesem Moment 
die Rakete aus der alten Kiste aufsteigen zu lassen. Vielleicht führt uns 
die Bemerkung auf den richtigen Weg, daß der ganze Dreibund einen ähn- 
lichen Vertrag wie Deutschland mit Rußland treffen könne, und daß sich 
eine Erneuerung des Vertrages noch heute empfehle. Das ist Bismarcks 
Anschauung, die die Welt gewiß beachten wird, weil es eben die seine ist, 
aber sie hat doch nicht mehr so entscheidendes Gewicht, wie frühere Meinungs- 
äußerungen des Altreichskanzlers, weil er nicht mehr in die Vorgänge der 
neueren Zeit eingeweiht ist; er kann deshalb auch nicht wissen, ob seine 
Enthüllungen nicht uns Schaden bringen werden. Er stellt in diesem Ver- 
teidigungsartikel die Dinge auf den Kopf, indem er schreibt, die Geheim- 
haltung sei weder für Deutschland noch für den Dreibund ein Bedürfnis 
gewesen." 
„National-Ztg.“: „Was die politische Erörterung in dem vor- 
stehenden Artikel betrifft, ist sie großenteils gegenstandslos, so lange man 
den angeblichen Vertrag nicht kennt. Keineswegs bloß die Presse der Par- 
teien, die vor 1890 dem Reiche unfreundlich und kämpfend gegenüberstanden, 
hat die Hamburger Veröffentlichung verurteilt, und auch in dem vorstehen- 
den Artikel wird kein verständlicher Zweck derselben angegeben. Trotz der 
Nachahmung der Redeweise des Fürsten Bismarck in dem obigen Artikel 
bleibt wie der Zweck, so auch der Ursprung der streitigen Veröffentlichung 
unaufgeklärt.“ 
„Germania“: „Die jetzige Regierung darf mit Genugthuung ver- 
zeichnen, daß die ganze deutsche Presse — von den „unentwegten"“ journa- 
listischen Trabanten des Fürsten Bismarck abgesehen — ohne Unterschied 
der Partei in dieser Frage auf ihrer Seite steht; sie wird die maßvolle 
und ruhige Haltung der Presse auch darin erkennen, daß bis jetzt noch kein 
Blatt zu einem strafrechtlichen Vorgehen gegen den Altreichskanzler oder 
gegen den „Sohn seines Vaters“ angeraten hat, wie es Fürst Bismarck 
ganz gewiß nicht unterlassen haben würde.“ 
„Reichsbote“: „Warum wird dieser Vertrag, der bisher als Staats- 
geheimnis behandelt wurde, jetzt enthüllt? Auf diese Frage sucht man bis 
jetzt vergeblich eine Antwort, da man einen anderen als patriotischen Grund 
nicht annehmen möchte. Nach den obigen Auslassungen scheint aber der 
Hauptgrund zu sein, zu zeigen, wie gut und weise unter Kaiser Wilhelm I. 
Deutschland regiert war, und dann dem Publikum den Schluß auf die 
Regierung Kaiser Wilhelms II., die jenen gepriesenen Vertrag nicht erneuert 
hat, in den Mund zu legen. Wir müssen eine solche öffentliche Bloß- 
stellung unserer Regierung als unpatriotisch entschieden zurückweisen. Diese 
Bloßstellung kann die Regierung nicht ertragen, sie muß jetzt darthun, warum 
sie den Vertrag nicht erneuert hat.“ 
„Kons. Korresp.“: „Es liegt uns fern, darüber ein Urteil abzu- 
geben, ob diese Erklärung (des Reichs-Anz.) überhaupt nötig war; jeden- 
falls aber wäre es wohl besser gewesen, wenn man eine andere Form für 
die Erklärung gefunden und die polemischen Spitzen fortgelassen hätte. 
Eine „Verletzung strengster Staatsgeheimnisse“, eine „Schädigung wichtiger 
Staatsinteressen“, eine Absicht, „das Vertrauen der Mächte in die deutsche 
Vertragstreue zu erschüttern“", wird doch wohl — außer im Lager der Bis- 
marckhasser — dem großen, um unser Vaterland so hochverdienten Staats- 
manne niemand zutrauen!“ 
Dieselbe Anschauung vertritt die „Schles. Ztg.“ 
Die „Preußischen Jahrbücher“ (Bd. 86 S. 623) führen in einem 
langen Eposé über die Geschichte der letzten 10 Jahre aus, daß das deutsch- 
russische Abkommen nicht gegen Oesterreich sondern gegen England gerichtet
	        
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