144 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 30.—Dez. 4.)
Erlasse von 1890 und die Handelsvertragspolitik, wodurch Deutschland eine
Unterbilanz von 300 Millionen habe. Die Marine müsse durchaus ver-
stärkt werden. Staatssekretär v. Marschall: Die Handelsbilanz habe sich
seit den Handelsverträgen gebessert. Abg. Rickert (fr. Vge.) und Abg.
Zimmermann (d.-s. Refp.) billigen die hohen Marineforderungen nicht.
Am 3. Dezember bespricht Abg. Liebknecht (Soz.) den Hamburger
Ausstand und widerlegt die Behauptung, daß er von England angezettelt
sei. Ebensowenig habe ihn die Sozialdemokratie hervorgerufen. Die For-
derungen der Arbeiter seien durchaus bescheiden. Staatssekr. v. Bötticher:
Wenn es je eine Arbeitseinstellung gegeben hat, die nach objektiver Beur-
teilung der Verhältnisse unbegründet war, so ist es der Strike, den die
Stauer jetzt in Hamburg inszeniert haben. Ich kann mir denken, daß
jemand, der um des Lebens Not schwer zu kämpfen hat, das Bedürfnis
empfindet, sich mit seinen Genossen zu associieren, um bessere Lebensbe-
dingungen für sich zu erkämpfen; wenn aber, wie hier in Hamburg, die
Lebensbedingungen für diese Arbeiter solche sind, daß Hunderttausende und
Millionen von deutschen Arbeitern sich darnach sehnen, diese Lebensbe-
dingungen zu erreichen, dann sage ich: Weite Kreise des Volkes werden
diese Arbeitseinstellung als eine gerechtfertigte nicht ansehen. Der Vorredner
hat von der Brutalität der Arbeitgeber gesprochen. Wo ist denn diese
Brutalität? Anfangs November setzt sich eine Kommission der Hamburger
Schauer hin und begehrt von den Rhedern, mit der Aufforderung in kür-
zester Frist eine Entschließung zu fassen, eine Erhöhung ihres Durchschnitts-
lohns von 4,20 auf 5/“ Ich frage Sie: welcher deutsche Arbeiter oder
wieviel deutsche Arbeiter verdienen 4,20 ∆ im Durchschnitt täglich: Glauben
Sie (zu den Sozialdemokraten) nur nicht, daß Sie mit der Behauptung,
dieser Lohn sei niedrig und müßte erhöht werden, weil er den Lebensunter-
halt des Arbeiters nicht deckt, bei den binnenländischen Arbeitern Glück
haben. Aber weiter. Die Rhederei lehnt es ab, in der kurzen Frist auf
die Forderung einzugehen, aber sie erklärt sich bereit, eine Erhöhung auf
4,50 M vorzunehmen. Das genügt den Schauern nicht. Es wird eine
neue Leitung der Arbeiter gewählt, und der Strike wird in Szene gesetzt.
Ich lasse dahingestellt, ob der Ausstand von englischer Seite Nahrung em-
pfangen hat. Das würde das Vorgehen in einem eigentümlichen Lichte er-
scheinen lassen. Ich weise solche Vermutungen zunächst zurück. Das ist
aber unleugbar, daß der englische Führer Tom Man nach Hamburg ge-
kommen ist und sich der Ausstandsbewegung angenommen hat. Er ist nach
England zurückgegangen. Daß die Strikebewegung einen internationalen
Charakter hat annehmen sollen, dafür sprechen eine ganze Menge Anzeichen.
Die ausländischen Hafenplätze Rotterdam und Antwerpen sind zur Beteili-
gung aufgefordert worden; sie sind aber so klug gewesen, die Aufforderung
abzulehnen. Als das bekannt wurde, waren die Arbeiter zum Nachgeben
geneigt, aber die Neigung kam nicht zum Durchbruch, weil den Arbeitern
gesagt wurde, daß zu anderer Zeit der Strike aussichtslos sei. Die Sozial-
demokratie soll völlig unschuldig an dieser Bewegung sein. Was haben
wohl die Reichstagsabgeordneten v. Elm, Legien und Molkenbuhr in Ham-
burg zu thun, statt hier anwesend zu sein und den Saal füllen zu helfen?
Der eine dieser Herren hat sich an Bord der Schiffe begeben, wo er nichts
zu suchen und wozu er keine Erlaubnis hatte, um die Arbeiter zu haran-
guieren. Was denken sich die, welche die ordentlichen, braven Arbeiter in
den Strike hineingeführt haben? Handelt es sich um eine Notlage und um
den Widerstand der Rheder gegen jede Verbesserung? Was soll aus den
Arbeitern werden, wenn der Kampf noch Wochen und Monate fortgesetzt
wird? Der Hamburger Rheder hält es länger aus, weil er Zuzug von