Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Frankreich. (Juli 10.) 219 
noch vor Oktober 1896 möglich sei. Die großen Kapitalisten würden von 
der Rentensteuer nicht betroffen werden. Das Kabinet täusche sich, wenn 
es glaube, die Sozialisten dadurch entwaffnen zu können, daß es ihnen einen 
Teil ihres Programms nehme (2. Juli). 
Finanzminister Cochéry: Die Reformen seien notwendig Die Ein- 
kommensteuer sei vollkommen gesetzmäßig, die Vorlage werde keineswegs den 
Kredit schädigen und den Geldmarkt nicht verschieben (3. Juli). Der frühere 
Finanzminister Doumer bekämpft die Vorlage und führt aus, dieselbe sei 
schlecht gefaßt, helfe zu nichts und sei nur ein politisches Manöver. Die 
Rentensteuer werde die Kapitalien in das Ausland treiben. Es würde ge- 
fährlich sein, den Markt der französischen Renten im Auslande zu erwei- 
tern, denn dieser Markt würde nach Belieben Baisse oder Hausse veranlassen 
können. Jaures (Soz.) erklärt sich mit gewissen Teilen des Cochéry'schen 
Entwurfes einverstanden, wirft ihm aber vor, daß er, anstatt die Landwirt- 
schaft zu begünstigen, die Kapitalisten entlaste (4. Juli). Am 6. führt der 
Radikale Pelletan aus: Die projektierte Wohnungstaxe belaste den Armen 
viel schwerer als den Reichen. Für den Armen repräsentiere dieselbe ein 
Fünftel des Einkommens, während der reichste Steuerträger Frankreichs, 
dessen Einkommen 24 Millionen betrage, nur ein Zweihundertstel des Ein- 
kommens bezahlen würde. Nach dem deutschen Einkommensteuergesetz zahlten 
die Frankfurter Rothschilds 300000 Franks jährlich, während die reicheren 
Pariser Rothschilds nach dem Projekte des Finanzministers Cochéry 16000 
Franks zahlen würden. Die französische Demokratie sei also genötigt, sich 
Beispiele der Gerechtigkeit jenseits des Rheins zu suchen. 
Am folgenden Tage bringt Doumer seine Gegenvorlage ein (vgal. 
S. 210). Ministerpräsident Méline: Die Vorlage der Regierung führe 
Gerechtigkeit bei den Steuern ein. Die Landwirtschaft trage jetzt einen zu 
großen Teil der Steuern, es sei Zeit, die Gleichheit zwischen dem beweg- 
lichen und unbeweglichen Besitz wiederherzustellen, das Kapital der Land- 
wirtschaft zuzuführen und der Auswanderung vom Lande nach den Städten 
Einhalt zu thun. Er wolle keinen Unterschied machen zwischeu den Arbei- 
tern in den Städten und den ländlichen Arbeitern. Er habe immer Einig- 
keit und Eintracht unter den Arbeitern gepredigt, während die Sozialisten 
Haß und Mißachtung predigten. Der Staat habe sich nie verpflichtet, die 
Rente steuerfrei zu lassen. „Die Sozialisten“, fährt Redner fort, „unter- 
stützen uns, weil wir, wenn wir ihnen folgen, das Uebereinkommen verletzen 
würden, sie umarmen uns, um uns besser ersticken zu können. Aber wir 
ahnen ihre Taktik."“ (Lebhafter Tumult.) Der Ministerpräsident schließt, 
indem er sagt, das Land werde mit der Regierung und dem größten Teil 
ihrer Reformversuche zufrieden sein. Die Kammer werde zwischen den beiden 
Systemen wählen, dem der Regierung, welches Gerechtigkeit bei den Steuern 
einführt, und dem Doumers, durch welches die Arbeit an ihrer Wurzel ge- 
troffen wird.“ — Nachdem der Minister die Vertrauensfrage gestellt hat, 
wird die Gegenvorlage Doumers mit 283 gegen 184 Stimmen abgelehnt. 
Am 9. Juli wird die Gebäudesteuer von 412 PCt. abgelehnt mit 
268 gegen 258 Stimmen. Hierzu bemerkt der Berichterstatter Krantz, 
daß diese Ablehnung einen Fehlbetrag von 19 Millionen herbeiführen werde; 
er beantrage daher die Zurückverweisung der Vorlage an die Kommission, 
welche sich mit der Regierung besprechen und nach einer halben Stunde 
dem Hause Bericht erstatten wolle. Der Antrag wird angenommen Nach 
Wiederaufnahme der Sitzung erklärt Krantz, die Budgetkommission habe 
sich mit der Regierung dahin verständigt, daß es nicht möglich sei, die 
nötigen Summen zu finden, um das aus dem Kammervotum sich ergebende 
Defizit auszugleichen. Die Regierung werde in drei Monaten eine neue
	        
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