Kebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1896. 319
in schroffem Gegensatze gegen die übrigen radikalen Parteien — für
eine energische Kolonialpolitik ein, und auch für die neuesten For-
derungen der Marine hat sich ihr anerkannter Führer Naumann,
ohne bei seinen Gesinnungsgenossen auf Widerspruch zu stoßen,
rundweg ausgesprochen. Die National--Sozialen sind ferner eine
monarchische Partei, denn die Autorität der Krone kann die ein-
ander widerstreitenden Interessen der einzelnen Stände am besten
ausgleichen, die Selbstsucht der herrschenden Klassen zu gunsten der
niederen Volksschichten beschränken und das Vaterland nach außen
am besten vertreten. Trotz dieses Programms werden die National-
Sozialen wegen ihrer weitgehenden Forderungen zu gunsten der
Arbeiter, unter denen die unbedingte Koalitionsfreiheit obenan steht,
von den meisten bürgerlichen Parteien nicht als national anerkannt,
sondern wie die Sozialdemokraten befehdet. Ueber ihre Bedeutung
ist noch nichts Sicheres zu sagen, eine Reichstagswahl kann erst er-
weisen, wie tief sie in die Arbeiterschaft einzudringen vermochten.
Von den übrigen bürgerlichen Parteien ist. die bei weitem Zem
mächtigste das Zentrum. Es hat sich im letzten Jahre große natio-
nale Verdienste erworben, indem es den Ausschlag gab für die
Marineverstärkung zu Beginn des Jahres und die Verabschiedung
des Bürgerlichen Gesetzbuches durchsetzte, wofür es durch den Ver-
zicht auf einige alte Forderungen seines Programms nicht unerheb-
liche Opfer brachte.
Die sozialdemokratische Partei ist äußerlich dieselbe geblieben. Syhual-
Im vorigen Jahre sahen wir, wie sie sich über ein Agrarprogramm heo
nicht einigen konnte, in diesem Jahre versuchte sie sich gar nicht
an dem Problem. Der Parteitag hatte mehrere Tage lang mit
persönlichen Zänkereien zu thun und brachte Positives wenig zu
stande. Charakteristisch war, daß die gemäßigte bayerische Gruppe,
die in früheren Jahren harte Kämpfe mit der Parteileitung aus-
gefochten hatte, gar nicht vertreten war, und daß es dennoch zu
heftigen Angriffen auf die Führer kam, ein Zeichen, daß auch unter
den Norddeutschen tiefgehende Spaltungen herrschen. In der Stel-
lung zu den Gewerkschaften gingen die Meinungen weit ausein-
ander. Einige Delegierte, voran Dr. Quarck, beantragten, daß die
Gewerkschaften keine Parteipolitik treiben, sondern sich im Interesse