Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Deutsche 
P Te 
teien. 
Böhmen. 
Ungarn. 
322 Aebersicht der politischen Eutwickelung des Jahres 1896. 
genommen, daß die 72 Abgeordneten, die die neuen Wähler ins 
Parlament senden, die klerikalen und demokratischen Elemente ver- 
stärken, und daß zum erstenmal Sozialdemokraten ins österreichische 
Abgeordnetenhaus einziehen werden. 
Die Zusammensetzung der liberalen Parteien hat recht ein- 
schneidende Aenderungen erlitten. Von der „Vereinigten Linken“, 
in der seit der Cillifrage (vgl. 1895) keine Einigkeit mehr herrschte, 
hat sich die „Deutsche Fortschrittspartei“ abgetrennt. Vornehmlich 
aus böhmischen Abgeordneten bestehend will sie eine Oppositions- 
partei sein und in nationalen und freiheitlichen Fragen eine schärfere 
Tonart anschlagen. Aehnliche Tendenzen hegt die in den Alpen- 
ländern heimische „Deutsche Volkspartei“, wird aber von jener durch 
ihren Antisemitismus, den die Fortschrittspartei bekämpft, geschieden. 
Aus Deutschen bestehen ferner die „Christlich-Sozialen“, die unter 
Führung des rücksichtslosen Demagogen Lueger den Wiener Gemeinde- 
rat und den niederösterreichischen Landtag erobert haben. Sie hul- 
digen neben deutschnationalen und antisemitischen Prinzipien auch 
klerikalen Anschauungen, und es ist noch nicht absehbar, welche 
Richtung die Vorherrschaft behaupten wird. Neuerdings hat sich 
noch eine fünfte Gruppe gebildet, die Sozialpolitiker, die unter 
Leitung des Professors Philippowich mit ihrem antisemitischen und 
gegen die Privilegierten gerichteten Programm unter den kleinen 
Gewerbetreibenden Boden gewinnen und einige Mandate für den 
niederösterreichischen Landtag erstritten haben. Die anderen Parteien 
sind unverändert geblieben. In Böhmen hat sich das Verhältnis 
zwischen Deutschen und Tschechen nicht geändert: die Tschechen be- 
stehen nach wie vor auf der Anerkennung des böhmischen Staats- 
rechts, d. h. der legislativen und administrativen Unabhängigkeit 
der Länder der böhmischen Krone, die Deutschen und die Regierung 
sind dagegen. Hier und da wird freilich auch im deutschen Lager 
die Anerkennung des böhmischen Staatsrechts gefordert, weil nur 
auf diese Weise ein abgeschlossenes deutsches Sprachgebiet abgegrenzt 
und damit der nationale Frieden hergestellt werden könne, die 
großen Parteien bestehen jedoch durchaus auf Aufrechterhaltung der 
heutigen Verfassung. 
In Ungarn war das öffentliche Leben durch die Jahrtausend-
	        
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