Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Ver- 
hältnis 
zur 
Kurie. 
Belgien. 
Heeres- 
reform. 
330 Mebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1896. 
afrikanischen Ereignisse verstärkte Finanznot nach wie vor lähmend, 
doch bot das am Jahresschluß veröffentlichte Budget günstigere Aus- 
sichten. — Das Verhältnis zur Kurie blieb äußerlich auf dem alten 
Fuße, doch wurden von der Regierung und den Parteien die Be- 
mühungen des Paypstes, die Freilassung der Gefangenen von Menelik 
zu erwirken, mit Dankbarkeit aufgenommen. 
In Belgien hat die klerikale Partei ihre parlamentarische 
Herrschaft behauptet. Die Neuwahlen der Hälfte der Deputierten 
brachten ihr sogar noch einige Mandate zu und bewiesen den völligen 
Zerfall der alten liberalen Parteien, von denen die radikalen Elemente 
mit den Sozialdemokraten paktiert hatten, ohne freilich dadurch Er- 
folge zu erringen. Die Sozialdemokraten behaupteten ungefähr 
ihren alten Besitz. — Eine der brennendsten Fragen der Gesetz- 
gebung war die Reorganisation des Heerwesens. Schon seit Jahren 
war auf die Unzulänglichkeit der veralteten auf der Stellvertretung 
beruhenden Heeresverfassung hingewiesen worden, aber die herrschende 
katholische Partei widerstrebte jeder Aenderung, insbesondere der 
Einführung der persönlichen Wehrpflicht. Um jeden Gedanken hieran 
auszuschließen und die Stellvertretung durch Anlockung zahlreicher 
Freiwilligen zu befestigen, wurde ein Gesetz beschlossen, wonach jeder 
im Heere dienende außer Unterhalt und Löhnung eine Jahresent- 
schädigung von 360 Frcs. extra beziehen sollte. Trotzdem wagte 
der Kriegsminister aufs neue Beseitigung der Stellvertretung und 
einige numerische Verstärkungen zu fordern, stieß aber damit im 
Parlament auf solchen Widerstand, daß er seinen Platz räumen 
mußte. Als Ersatz für seinen Entwurf wurde eine Vorlage zur 
Umgestaltung der Bürgerwehr eingebracht. Diese — garde civique, 
bisher nur zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bestimmt 
— soll von jetzt an eine 2. Armee bilden und in Kriegszeiten zur 
Besetzung von Festungen dienen; in ihr sollen diejenigen dienen, 
die sich selbst einkleiden können. Bezeichnend für die Beurteilung 
dieser Vorlage in militärischen Kreisen ist, daß sich bisher noch 
kein General zur Uebernahme des Kriegsministeriums gefunden hat, 
sondern der Eisenbahnminister einstweilen mit seiner Verwaltung 
betraut ist. — Im übrigen gab es wie alljährlich Rassen= und 
Klassenkämpfe in Belgien; diese werden bezeichnet durch einige
	        
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