Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Ruß- 
land. 
332 Mebersicht der politischen Eutwichelung des Jahres 1896. 
zweite Kammer nicht wesentlich umgestaltet: die Landmännerpartei 
behielt die Majorität und verstärkte ihre schutzzöllnerischen Elemente 
um einige Mandate, die Linke erzielte keine Erfolge. Die günstige 
Finanzlage gestattete eine wichtige Verstärkung der Wehrkraft; so 
erhielten Infanterie und Artillerie neue Waffen, und auch die 
Flotte wurde vermehrt. — In Norwegen wurde die Rückkehr des 
kühnen Nordpolfahrers Fridtjof Nansen nach dreijähriger Abwesen- 
heit wie ein Nationalfest gefeiert (vgl. hierüber Georg Wegener, 
Deutsche Rundschau, Jahrg. 1897). 
Rußlands Stellung in der europäischen Politik war, wie wir 
bereits sahen, außerordentlich großartig. In Frankreich fand es 
einen willigen Bundesgenossen, und mit dessen Hülfe konnte es auf 
der Balkanhalbinsel die führende Rolle spielen, wo ihm die Aner- 
kennung des Fürsten Ferdinand auch den vorwaltenden Einfluß in 
dem ihm so lange feindlichen Bulgarien sicherte. Zugleich befestigte 
es seine Macht in Ostasien. Ob freilich die Bundesgenossenschaft 
mit Frankreich der öffentlichen Meinung Rußlands ebenso entspricht 
wie der Frankreichs, ist bei dem Mangel eines intensiven politi- 
schen Lebens in Rußland nicht zu beurteilen: nur das läßt sich 
konstatieren, daß in Rußland einflußreiche Kreise Frankreich für 
ein durchaus verdorbenes und im Niedergange begriffenes Land 
ansehen. In diesem Sinne hat sich z. B. der Oberprokureur der 
Heiligen Synode, Pobjedonoszeff, ausgesprochen, doch ist nicht zu 
sagen, ob er und seine altrussischen Anhänger damit auch das 
augenblickliche politische Zusammengehen mit der französischen Nation 
mißbilligen (vgl. Paul Irgen, Das politische Testament Pobjedo- 
noszeffs. Preuß. Jahrb. Bd. 87, 1). 
Die innere Geschichte des Zarenreiches zeigt wenig Verände- 
rungen. Das starre autokratische Regiment wurde wohl hier und 
da etwas gemildert, so gestattete der Senat die Einreichung von 
Petitionen um Einführung von Reformen, und auch die Bedrückung 
der evangelischen Kirche hat etwas nachgelassen, doch zeigen die 
Unruhen der Studenten deutlich genug, wie viel Unzufriedenheit 
mit dem hergebrachten System noch vorhanden ist. Die wirtschaft- 
liche Lage war bei der Notlage der Landwirtschaft und der schlechten 
Ernte nicht glänzend, so daß auch die Münzreform des Finanz-
	        
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