Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 5. 6.) 115
beginnen wird, nicht von einem absoluten Mangel an verfügbarem Brot-
korn reden. In Rußland ist dies ebensowenig der Fall; ich werde einen
vor kurzem eingetroffenen Bericht unseres Generalkonsuls in St. Petersburg
verlesen. Der Bericht ist datiert vom 16. April neuen Stils, nicht des
russischen Stils; er ist daher geschrieben, ehe von der Interpellation der
Herren Abg. Auer und Genossen etwas bekannt war. Ein Satz in diesem
Berichte lautet: Trotz des partiellen Notstandes — ich schicke voraus, daß
nach einer Anlage des Berichts der ernste Notstand sich auf 8 Gouverne-
ments beschränkt — trotz des partiellen Notstandes sind, wie ich höre, hier
in allerletzter Zeit infolge der erhöhten Preise viele und große Abschlüsse
über Getreide für das Ausland gemacht worden. Die alten Bestände müssen
noch groß sein; sie kommen erst zum Vorschein, sobald die Preise anziehen.
Meine Herren, diese eine Nachricht für Rußland und die andere, die ein-
fach den jedermann zugänglichen Zeitschriften entnommen ist, für Amerika
liefern zusammen den Beweis, daß es nicht ein absoluter Mangel an Brot-
getreide ist, der das Hinaufschnellen des Weizenpreises zur Folge gehabt
hat, sondern, wie der Herr Abg. Schippel es eingangs seiner Rede selber
zugab, in erster Linie die Kriegspanik. Meine Herren, nach den neuesten
Nachrichten vom Kriegsschauplatz werden Sie mir aber zugeben, daß diese
Kriegspanik schwerlich mehr lange anhalten wird, und die Folgerungen
daraus werden Sie ziehen können. (Bravo!)
5. Mai. (Bayern.) Die Kammer der Abgeordneten be-
schließt eine Änderung des Vereinsgesetzes.
Hierdurch wird das Verbot des Inverbindungtretens politischer
Vereine aufgehoben und großjährigen Frauen das Recht gewährt, sich an
solchen politischen Vereinen zu beteiligen, welche nur den Berufs- und
Standesinteressen bestimmter Personenkreise oder nur Zwecken der Erzieh-
ung, des Unterrichts und der Armen- und Krankenpflege dienen.
6. Mai. Der Kaiser schließt den Reichstag mit folgender
Thronrede:
Geehrte Herren! Die erste Legislaturperiode des Reichstages, welche
den vollen fünfjährigen Zeitraum umfaßt hat, liegt hinter Ihnen. Die-
selbe ist fruchtbar gewesen an gesetzgeberischen Erfolgen, die zur Macht und
Wohlfahrt des Vaterlandes dauernd beitragen werden. Ihrer beharrlichen,
unausgesetzt auf das hohe Ziel gerichteten Arbeit ist es gelungen, das große
Werk des gemeinsamen bürgerlichen Rechts vor dem Ende der Legislatur-
periode zum Abschluß zu bringen. Damit ist durch vereinte Thätigkeit der
verbündeten Regierungen und des Reichstages dem deutschen Volke ein kost-
barer Besitz gewonnen, der ihm im Laufe einer tausendiährigen Geschichte
noch niemals vergönnt war. Das neue gemeinsame Recht wird ein neues
starkes Band um die deutschen Stämme schlingen. Eine einheitliche Rechts-
ordnung ist auch für das militärgerichtliche Verfahren geschaffen, nachdem
Sie einer den Anforderungen sowohl des heutigen Rechtsbewußtseins wie
der Mannszucht entsprechenden Vorlage Ihre Zustimmung erteilt haben.
Um die ernste Aufgabe, Bürge des europäischen Friedens zu sein, wirksam
zu erfüllen, bedurfte Deutschland der Verstärkung seines Landheeres, die
durch Ausnutzung seiner steigenden Wehrkraft gewonnen werden konnte.
Durch Bewilligung der dazu nötigen Mittel hat der Reichstag sich ein
bleibendes Verdienst um die friedliche Sicherheit des Reichs erworben. Mit
hoher Befriedigung erfüllt es Mich, daß Ich unter Ihrer patriotischen
Mitwirkung erreichen konnte, unsere Flotte auf eine feste und dauernde
gesetzliche Grundlage zu stellen. Indem der Reichstag die Bedeutung des
8*