Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 7.—10.) 119 
die Landwirtschaft unser Bemühen sein. Für den Handwerkerstand ist es 
gelungen, einen Boden der obligatorischen Organisation zu gewinnen . . . 
Andere noch nicht erreichte Wünsche werden das Ziel unserer Anstrengungen 
bleiben müssen. Für den Schutz und die Förderung der Gesundheit, der 
Sittlichkeit und der wirtschaftlichen Lage der arbeitenden Stände sind wir 
mit Ausdauer und Erfolg thätig gewesen. Mit lebhaftem Bedauern er- 
füllt uns, daß in der mit Eifer und Begeisterung begonnenen Sozialreform 
nicht der erhoffte Fortschritt zu bemerken ist. Es wird noch der Anstreng- 
ungen vieler Jahre bedürfen, um sie zu einem befriedigenden Abschluß zu 
führen. Wo bei der Ausführung der bisherigen Reformgesetze Härten und 
Schwierigkeiten sich zeigten, haben wir unter voller Wahrung unseres grund- 
sätzlichen Standpunktes nachdrücklich deren Beseitigung angestrebt. Wir 
werden nicht aufhören, die Regierung zu thatkräftigem Fortschreiten zu 
drängen, damit die Erlasse unseres Kaisers vom Februar 1890 voll und 
ganz verwirklicht werden . . . . . Einen Fraktionszwang kennen wir nicht. 
Wenn wir dessen ungeachtet auf eine so fruchtbare Thätigkeit zurückblicken 
können, so verdanken wir dies vornehmlich dem Umstande, daß die Einig- 
keit der Fraktion auf Grund einer gemeinsamen Ueberzeugung es ermöglichte, 
das ganze Gewicht ihrer Bedeutung einzusetzen. Wie in früheren Jahren 
hat zwar auch in dieser Session es sich nicht vermeiden lassen, daß in wich- 
tigen Fragen die Fraktion nicht in voller Einigkeit stimmte . . . . . Aber 
alle Mitglieder der Fraktion sind der festen Ueberzeugung, daß streitige 
Einzelfragen niemals einen Grund abgeben dürfen, um den Bestand oder 
die Einigkeit der Fraktion zu beeinträchtigen . . . Die Politik der Samm- 
lung bezweckt die Verdrängung des Zentrums aus seiner ausschlaggebenden 
Stellung im Reichstage. Wie früher, so stehen wir auch jetzt allein und 
werden nur aus eigener Kraft unsere Stellung zu behaupten haben . . . 
Würden die Lehren des Kulturkampfes vergessen, so wären die Früchte 
unserer Anstrengungen seit fast einem Menschenalter rasch dahin. Der Kampf 
gegen den Glaubenshaß und die Wahn-Ideen der Sozialdemokratie, gegen 
den kirchenfeindlichen Liberalismus und gegen jenen Konservatismus, 
welcher einer einseitigen Interessen-Politik sich nicht versagt und sein Ziel 
in der Beschränkung der Freiheiten und Rechte des Volkes sucht, erfordert 
nach wie vor den Bestand der Zentrums-Fraktion. 
7. /9. Mai. Das preuß. Abgeordnetenhaus genehmigt 
in zweiter Beratung die Gesetzentwürfe über das Diensteinkommen 
der evangelischen und katholischen Pfarrer gegen die Stimmen der 
Freisinnigen und einiger Konservativer. Gegen das Gesetz spricht 
namentlich Abg. v. Köller (kons.), der frühere Präsident. (An- 
nahme im Herrenhause 16. Mai.) 
10. Mai. Die deutsch-soziale Reformpartei veröffent- 
licht folgenden Wahlaufruf: 
Herausgewachsen aus den Bedürfnissen und Gedanken einer neuen 
Zeit ringt sich unsere junge Partei auf Kosten der alten Parteien empor 
und wird darum von allen Seiten heftig befehdet. Gegenüber dem hier 
und da unternommenen Versuche, uns außerhalb der sogenannten staats- 
erhaltenden und natinalen Parteien einen Platz anzuweisen und uns als 
verwandt mit der Sozialdemokratie hinzustellen, betonen wir, daß wir in 
unweigerlicher Treue zu Kaiser und Reich stehen und als eifrigste Befür- 
worter umfassender zeitgemäßer sozialer Reformen gerade die schärfsten 
 
	        
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