122 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 11.—16.)
betreffend die Abänderung des verfassungsmäßigen Reichstagswahlrechtes in
Vorbereitung begriffen oder gar schon ausgearbeitet. Wir sind zu der
Erklärung ermächtigt, daß innerhalb der Regierung keinerlei Erwägungen
stattgefunden haben, welche auch nur den entferntesten Anhalt zu dieser
Nachricht bieten könnten. Dieselbe beruht somit in ihrem ganzen Umfange
auf Erfindung. — (11. Mai.)
11. / 14. Mai. (Württemberg. Landtag.) Beratung und
Ablehnung der Zentrumsanträge über die Orden, den Religions-
unterricht und die Erweiterung der bischöflichen Rechte. (Vergl.
S. 93.)
Abg. Gröber (Z.) begründet in ausführlicher Rede die Anträge,
von denen das Zentrum seine Zustimmung zu der Verfassungsreform ab-
hängig machen will. Ministerpräsident v. Mittnacht erklärt, daß nach
der Geschäftslage des Hauses und der vorgerückten Jahreszeit die Anträge
gar nicht mehr eingehend beraten werden könnten, ohne daß darüber die
Verfassungsdurchsicht selbst unter den Tisch falle. Im Namen der Regie-
rung erklärt er dann, die Regierung lehne die verlangte grundsätzliche
Aenderung des Verhältnisses des Staates zur Schule ab. Nirgends in
Deutschland sei den Kirchen ein solches Recht über die Schule, wie das
Zentrum es verlange, eingeräumt. Wollte die Regierung auf das Ge-
nehmigungsrecht für die Orden verzichten, so würde sie sich in Widerspruch
setzen mit den Wünschen und Forderungen der großen Mehrheit der Staats-
angehörigen sowie mit der kirchenpolitischen Grundauffassung, auf welcher
das Gesetz von 1862 beruht. Da Württemberg die geistliche Schulaufsicht
sowie die Konfessionsschule besitze, so bestehe kein Anlaß, dasselbe nochmals
vorzuschreiben.
Am 14. Mai werden die Anträge mit 58 gegen 22 Stimmen ab-
gelehnt.
16. Mai. Die „Frankfurter Zeitung“ bringt folgende
Mitteilung über ein angebliches österreichisch-russisches Abkommen:
Das im April 1897 beim Besuche des Kaisers Franz Joseph in
Petersburg zwischen Rußland und Oesterreich-Ungarn getroffene Ueber-
einkommen ist keine politische Abmachung im landläufigen Sinne, sondern
ein Staatsvertrag, gezeichnet von dem russischen und dem österreichischen
Kaiser und gegengezeichnet von den Ministern der auswärtigen Angelegen-
heiten beider Länder, den Grafen Murawjeff und Goluchowski. Der Ver-
trag läuft vom 1. Mai 1897 bis zum 1. Mai 1902. Er verlängert sich
von selbst auf je weitere drei Jahre, wenn sechs Monate vor seinem Ab-
lauf nicht einer der Kontrahenten ihn kündigt. Der Hauptzweck des Ver-
trags ist die Aufrechterhaltung der Ruhe und des Friedens auf der Balkan-
halbinsel, sowie des status quo des gegenwärtigen Besitzstandes dort. Zu
diesem Behufe teilen die beiden den Vertrag schließenden Staaten die
Balkanhalbinsel in zwei Interessensphären, von denen jede eine engere und
eine weitere Interessensphäre enthält. In die engere Interessensphäre
Oesterreich-Ungarns fällt Serbien und in seine weitere Makedonien von
Salonichi, diese Stadt einbegriffen, in nördlicher Richtung fast gradlinig
bis Vranja; ferner Albanien mit Ausnahme einiger südöstlich an Mon-
tenegro grenzenden Kreise. In die engere Interessensphäre Rußlands fällt
Bulgarien, in seine weitere der östlich von der Ostgrenze der österreichisch-
ungarischen Interessensphäre gelegene Teil des europäischen Besitzstandes der
Türkei. Die beiden vertragschließenden Mächte verpflichten sich, in ihren