Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni.) 131
Euer Hochwohlgeboren beehre ich mich auf das gefällige Schreiben
vom gestrigen Tage ergebenst zu erwidern, daß meines Erachtens die bürger-
lichen Parteien über ihre Haltung bei den bevorstehenden Wahlen nicht
zweifelhaft sein können. Die sozialdemokratische Partei hat sich nicht nur
selbst in der Oeffentlichkeit als eine revolutionäre Partei bekannt, sondern
sie ist auch thatsächlich eine solche, da ihre ausgesprochenen Ziele in der
Beseitigung der bestehenden Staatsordnung sowie in der Aufhebung des
Privateigentums und ihre Mittel häufig in der terroristischen Beschränkung
der persönlichen Freiheit der Arbeiter bestehen. Es kann nur auf theo-
retischem Mißverständniß, auf politischer Kurzsichtigkeit oder auch vielleicht
auf Mangel an Mut beruhen, wenn diese Sachlage von mancher Seite
nicht anerkannt oder absichtlich verdunkelt wird. Die bürgerlichen Parteien,
welche unzweifelhaft gewillt sind, die bestehende Staatsordnung aufrecht zu
erhalten, haben demgemäß auch dem Deutschen Reiche gegenüber wie gegen
sich selbst aus Gründen der Selbsterhaltung die Verpflichtung, durch ihre
Stellung im Wahlkampf und ihre Beteiligung an der Wahlhandlung der
Wahl sozialdemokratischer Abgeordneter gemeinschaftlich entgegenzutreten.
Wahlberechtigte, welche aus Fraktionsrücksichten hoffnungslose Kandidaturen
aufstellen oder aufrecht erhalten und damit die Wahl eines Kandidaten der
bürgerlichen Parteien in Frage stellen oder vereiteln, laufen Gefahr, die
sozialdemokratische Bewegung mittelbar zu unterstützen. Wer unser Vater-
land vor schweren inneren Erschütterungen bewahren will, sollte deshalb
seine politischen Neigungen und Abneigungen der vornehmsten politischen
Pflicht unterordnen: der geschlossenen Frontstellung gegen den revolutionären
Sozialismus. Zum Wohle aller Klassen der Bevölkerung muß der nächste
Reichstag eine sichere Mehrheit aufweisen, welche bereit ist, die großen ge-
meinsamen Interessen unserer Erwerbsstände positiv zu fördern; zu dem
Zwecke muß er der Regierung einen festen Rückhalt bei der Vorbereitung
und Entscheidung der schwierigen Fragen des internationalen Wettbewerbs
bieten und entschlossen sein, die Lage der heimischen Produktion und zwar
besonders der durch die moderne Entwickelung unzweifelhaft am meisten
gefährdeten Erwerbsstände, der Landwirtschaft und der Mittelklassen, einer
vorurteilsfreien, durch Lehrmeinungen und politische Rücksichten nicht be-
einflußten Prüfung zu unterziehen. Im Interesse der Arbeiterbevölkerung
wird es endlich der formalen Verbesserung und des weiteren sachlichen Aus-
baues der Arbeiterversicherungsgesetze unbedingt bedürfen. Sollte keine
Aussicht vorhanden sein, einem Kandidaten zum Siege zu verhelfen, welcher
diese Gesamtauffassung teilt, so sollte jedenfalls der Kandidat unterstützt
werden, welcher den Sozialdemokraten gegenübersteht. Bei der Wichtigkeit
der bevorsteheuden Wahlentscheidung darf kein staatstreuer Wähler an der
Wahlurne fehlen, um durch die Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflicht
für das politische und wirtschaftliche Wohl der staatlichen Gemeinschaft
auch persönlich einzutreten.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ihr ergebener
Posadowsky.
Juni. Die Presse über den Brief des Grafen Posadowsky.
Der Brief wird in der Presse allgemein als Wahlaufruf der Regie-
rung behandelt. Die freisinnigen und sozialdemokratischen Blätter kriti-
sieren ihn abfällig und sehen darin eine Übermäßige Begünstigung der
Agrarier. Die mittelparteilichen und Zentrumsblätter stimmen nur teil-
weise zu. So schreibt die „National-Ztg.“: Wir stimmen dem Schreiben
des Grafen Posadowsky darin zu, daß in einer Anzahl Wahlkreise die
9*