Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 31. Anf. Aug.) 149
einem Familienfest mit großer Esserei versammelt und verließ nach gethaner
Arbeit wohlgemut die Stätte. Selbst der berühmte Leibarzt Bismarcks,
Dr. Schweninger, dampfte ab. . . . . . Was dem Fürsten Bismarck das
werkthätige Volk und speziell die Sozialdemokratie zu danken hat, das ist
mit eisernem Griffel zu seiner und des Reiches Schande in die Geschichte
unauslöschlich eingegraben. Bismarck haßte unsere Partei tödlich und er
glaubte die geistige Bewegung des Proletariats, das Fortschreiten des
Sozialismus durch die rohe Gewalt, durch Ausnahmegesetze, Polizeiwillkür,
Schikanen und Teufeleien aller Art niederhalten zu können. . . . . . Bis-
marck war zuletzt nicht mehr „nur" ein toter Mann, nein, er wurde ver-
achtet, und verhöhnt von vielen, vielen, die ehedem vor dem „Größten aller
Deutschen" auf dem Bauche lagen und seinen großen Stiefel küßten.
Auch in der gesamten ausländischen Presse werden Nekrologe ver-
öffentlicht und Bismarcks Bedeutung gewürdigt, vornehmlich in der öster-
reichischen und italienischen. Die italienische vergleicht ihn u. a. mit
Cavour, die englische mit Gladstone. In der französischen Presse lauten
die Urteile über sein Wirken im allgemeinen ungünstig; eine Ausnahme
machen die „Droits de I'Homme“: Bis auf zwei oder drei Ausnahmen
wird man schwerlich in den französischen Blättern ein gerechtes Urteil über
das Genie Bismarcks finden. Die Leidenschaft, folglich die Ungerechtigkeit,
folglich die Unverständigkeit bringen uns außer Rand und Band. Wir
sind von ihm so verstümmelt worden, daß es seinen Opfern und den Söhnen
seiner Opfer nicht einfallen kann, daß er kein Bösewicht gewesen ist. Das
ist kindisch. Wenn man aber einen großen Mann so beschimpft, so ge-
winnt man dabei, daß man sich mit seiner Geistesfaulheit und dem Vor-
urteil des Publikums begnügt. Dank der Legende, die durch die Artikel
der armen Ritter des Chauvinismus kristallisiert wird, wird Bismarck in
der Volksmeinung die Form eines nach Blut durstigen Menschenfressers
annehmen. Die Karikatur hatte bereits seinen Typus in dieser Weise ent-
stellt, was neuerdings das Wort bestätigt: Berühmt sein d. h. von aller
Welt verkannt werden. In Wahrheit entzückte Herr von Bismarck auf
allen diplomatischen Posten, die er einnahm, durch seinen Witz und seine
Gemütlichkeit. Da er nur an seinen Ideen festhielt, so stand er im Laufe
des Lebens anderen zur Verfügung. Mérimée war ganz närrisch von ihm
und am russischen Hofe betete man ihn an. Von allen Botschaftern empfing
er am herzlichsten. Die Dummheit brachte ihn zur Verzweiflung, ist es
aber seine Schuld, wenn er ihr so oft begegnete? Nie ließ er es Herrn
Thiers gegenüber an Höflichkeit fehlen. Er bewahrte dessen Porträt in
Friedrichsruh. Ein Mann von Wert ist von Bismarck nie schlecht behandelt
worden. Diese Kraft achtete stets die wahren Kräfte, denen sie begegnete.
Und wenn er sich manchmal gegen sie vergaß, so geschah es, weil sie ihm
allzu großen Widerstand leisteten, weil er über das Hindernis zornig wurde.
Da erhitzte er sich soweit, daß er sogar ungeheuerliche Dinge sagte, die von
den Historiographen verzeichnet wurden, als bildeten sie den Grund seiner
Natur. Der kluge Verstand gewann aber bald wieder die Oberhand.
Während des Krieges von 1870 schnappten die verständigsten Köpfe über,
auch Bismarck blieb nicht verschont. Aber nach Beendigung des Krieges
ist er der Einzige, der Metz Frankreich nicht stehlen will. Er gibt nur
auf den Widerstand Moltkes hin nach. Er hat wiederholt gesagt, daß er,
der die Einheit Deutschlands wollte, durch zwei Mächte daran verhindert
wurde: Oesterreich und Frankreich, die nur durch den Krieg gebrochen
werden konnten, weshalb er zum Kriege drängte; hätte diese Einheit aber
auf friedlichem Wege hergestellt werden können, so wäre dies ihm lieber
gewesen.